Flüchtlingshilfe:Freiwillige sind unentbehrlich

Flüchtlinge in Rottenburg

Ein freiwilliger Helfer des Deutschen Roten Kreuzes spricht in einer Notunterkunft in Rottenburg (Baden-Württemberg) mit einem Mädchen aus Syrien.

(Foto: Wolfram Kastl/dpa)

Ohne sie wäre die Flüchtlingskrise nicht zu bewältigen. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte organisieren die Bürger die Nothilfe. Manchmal gegen den Staat.

Von Gustav Seibt

Erinnert sich noch jemand an die Oderflut von 1997? Damals drohte eine vollständige Überschwemmung des erst 250 Jahre alten Bruchs mit seinen von Friedrich dem Großen angelegten Dörfern. Die Hilfe kam schnell und beherzt. Matthias Platzeck machte sich einen Namen als "Deichgraf". Die Bundeswehr half, Sand zu verteilen und stopfte die Löcher an den zerbröselnden Schutzwällen.

Mit dabei waren Hunderte Freiwillige, die sich in die Reihen stellten, in denen Sandsäcke weitergereicht wurden. Man sprach von einer zweiten, "inneren" Wiedervereinigung - der im Osten neue Staat, vor allem sein Heer, hatte sich mit der Gesellschaft solidarisch gezeigt.

Und so ging es bei allen folgenden Flutkatastrophen, auch der den Bundestagswahlkampf entscheidenden von 2002: Die staatlichen Verwaltungen, die Bundeswehr, das Technische Hilfswerk waren zur Stelle, um Bürgern zu helfen, die selbst schon anpackten. Live-Sendungen transportierten die Solidarität in alle trockenen Wohnzimmer.

Ist es nicht auch jetzt wieder so? Die Züge mit Flüchtlingen kommen an, und am Bahnhof stehen nicht nur Polizei und Rotes Kreuz, sondern auch die helfenden Bürger, die Spenden verteilen und den Geschundenen Mitleid und Sympathie bekunden - selbst wenn der Alltag danach steinig wird, diese Momente bleiben im Gedächtnis.

Inzwischen müssen die verantwortlichen Bürgermeister landauf, landab bekennen: Ohne die geballte Hilfe von Freiwilligen wäre der Ansturm nicht zu bewältigen gewesen. Selbst der Bundesinnenminister rang sich einen schmallippigen Dank ab, der allerdings die Bürger erst an dritter Stelle, nach der Polizei und der Verwaltung, nannte.

Keine staatliche Instanz rief auf zu helfen

Wenn er sich da mal nicht in der Rangfolge täuscht. Freiwillige Bürger sind unentbehrlich, das werden sie gern hören. Aber beunruhigend bleibt doch eine bis jetzt nicht recht ins Bewusstsein getretene Tatsache: Bevor der Flüchtlingsansturm zu jener "Krise" wurde, von der die Bundeskanzlerin behauptete, "wir schaffen das", hat keine staatliche Instanz die Bürger zur Mithilfe auch nur ermuntert, sie gar aufgerufen. Die Bürger waren, wie von Zauberhand, schon da, als die Zehntausende anrollten.

Berlin ist das eklatanteste Beispiel. Als die deutsche Öffentlichkeit noch fast ausschließlich von Griechenland sprach, brach die Flüchtlingsverwaltung in Berlin zusammen - eine erst regional bemerkte Katastrophe, die bis heute etwas Unglaubliches hat. Tausende im Freien wartende Flüchtlinge blieben im heißesten Sommer seit Jahrhunderten wochenlang ohne Wasser, ohne Schatten, ohne Toiletten, ohne medizinische Notversorgung.

Darunter waren Kriegsversehrte, Traumatisierte, schwangere Frauen, zahllose Kleinkinder. Die örtlichen Stellen - das "Landesamt für Gesundheit und Soziales" (Lageso) und der Bezirkbürgermeister von Mitte - verkündeten allabendlich im RBB-Fernsehen, man "arbeite" an den Problemen. Viel ist davon bis heute nicht zu spüren.

Da organisierte die Initiative "Moabit hilft", die es übrigens schon seit 2013 gibt, eine der spektakulärsten Hilfsaktionen der deutschen Geschichte. Über Nacht wurde eine Grundversorgung für Tausende aufgebaut, man eröffnete eine Spendenkammer, richtete eine Behelfsküche ein, und als diese vom Gesundheitsamt, dem die vorherige Katastrophe egal gewesen war, untersagt wurde ("aus hygienischen Gründen"), sprangen private Caterer oder Restaurants der Umgebung ein, um täglich mehrere Tausend Mahlzeiten zu verteilen - ohne dass die Stadt Berlin einen Finger gerührt hätte.

Helfer mussten erst einmal die von der Verwaltung verteidigten Parkverbote überwinden

Eine riesige Spendenwelle rollte vor das Lageso, bald gesteuert durch täglich erneuerte Bedarfslisten. Wer helfen wollte, stellte auf Facebook fest, dass es heute an Rasierschaum, Flipflops oder frischer Unterwäsche mangle, fuhr zu einem Großmarkt und besorgte das Nötige. Wenn er dann die von der Verwaltung aggressiv verteidigten Parkverbote vor dem Lageso überwunden hatte, konnten die Artikel sortiert und verteilt werden. Ähnliche Initiativen arbeiten längst in allen Berliner Bezirken. Jeder, der diesen atemberaubenden Vorgang in Echtzeit verfolgen will, kann dies über die sozialen Netzwerke von Stunde zu Stunde tun.

Am vergangenen Samstag etwa mussten nachts 250 Flüchtlinge in einer Lagerhalle in Prenzlauer Berg untergebracht werden. Bevor die Busse ankamen, stand die Bundeswehr zum Bettenaufbau bereit. Allerdings hatte niemand einen Schlüssel zu dem Gelände - also wurde ein Bolzenschneider über Twitter organisiert. Um Mitternacht lagen die Flüchtlinge wenigstens auf Matratzen, denn für den Aufbau von Betten war es zu spät geworden. Getwittert hatte aber nicht etwa die staatliche Verwaltung, sondern die Initiative "Lichtenberg hilft", die zusammen mit dem DRK in Karlshorst ein äußerst effizient organisiertes Notaufnahmeheim betreut.

Berlin ist taub geworden

So begeisternd diese digital vernetzte, dem globalen Kapitalismus abgeschaute "Just-in-time"-Produktion von Hilfe momentan ist, so beunruhigend ist die Umkehrung der Verhältnisse zwischen Freiwilligenhilfe und staatlicher Initiative für den Fernblick. Warum hat die riesenhafte Verwaltung der Stadt Berlin nicht kommen sehen, was ein paar Dutzend erschütterte Bürger zu unverzüglichem Handeln veranlasste?

Gewiss, zwischen Verwaltung und Bürgern in Berlin hat sich ein Ton der Gereiztheit eingespielt, der dazu führt, dass selbst der schrillste Alarm nur noch als Gequengel verstanden wird. Berlin ist buchstäblich taub geworden.

Aber Bayern, Sachsen - die konservativen Musterländer? Sachsen hatte schon Schwierigkeiten, das Gewaltmonopol und die Grundrechte in Heidenau zu sichern. Und natürlich war es dieses Staatsversagen, das die Bürgerhilfe in weiten Teilen Deutschlands erst befeuert hat. Die Willkommensinitiativen sind die wirksamste politische Demonstration seit Menschengedenken, der "Aufstand der Anständigen", der als Demo auf dem Marktplatz außer den Teilnehmern niemanden erreicht hätte.

Sie versammelt sich nicht unter Spruchbändern und vor Mikrofonen, sondern in Zelten, Kleiderkammern, hinter Kuchentischen und an Bahnsteigen, sie organisiert sich nicht durch offizielle Aufrufe, sondern in den Netzwerken, die auf ihre Weise auch die Flüchtlinge nutzen.

Das zivilgesellschaftliche Engagement ist neu

Dieser Kontrast von staatlichem Phlegma - um es freundlich zu formulieren - und zivilgesellschaftlicher Initiative ist etwas Neues in der deutschen Geschichte. Noch 1989/90, als die Massen aus dem Osten Deutschlands strömten, lag die Initiative eindeutig beim bundesdeutschen Staat. Er sorgte für die Verteilung des Begrüßungsgelds, für Notfahrpläne, für Sonderöffnungszeiten bei den Geschäften, für Willkommen aller Art.

Die Bürger machten gern mit, klatschten zu Trabi-Paraden und tranken singend "diese Kleinigkeit auf die deutsche Einigkeit". Aber organisiert hat die ganze Sause die öffentliche Verwaltung, bis hin zu logistischen Großleistungen wie der Einführung eines neuen Geldes.

So war es auch bei den Ausnahmezuständen im Zweiten Weltkrieg und den Notzeiten danach gewesen, bei der Unterbringung von Ausgebombten und Vertriebenen. Die Nazi-Diktatur versuchte ohnehin, den Schein einer effizienten Gemeinschaft zwischen Verwaltung, Parteistellen und Volk zu erzeugen, von der Feuerwehr nach dem Luftangriff bis zum Ortsgruppenleiter oder Bürgermeister, der die Einquartierungen organisierte. Diese mit Nachweisen und Marken auch papiergestützte Organisation wurde in der Nachkriegszeit bruchlos fortgesetzt - die Entnazifizierung scheiterte ja auch daran, weil die weiterschnurrende Verwaltung auf die bewährten Kräfte nicht verzichten wollte.

Selbst in der Revolution von 1919 sah der Beobachter Ernst Troeltsch vor allem Pensionsberechtigte durch die Sonntage spazieren, was in seinen Augen die Aussicht auf eine fundamentale Veränderung stark verringerte. 1945 funktionierten die S-Bahn-Netze und die Zugfahrpläne im Rahmen des Möglichen unverzüglich weiter, auch die Post wurde rasch wieder zugestellt. Die Idee, man könne ein paar Tausend Menschen fremder Herkunft unversorgt und ohne Auskünfte vor einem Amt einfach liegen lassen, hätte der klassische deutsche Beamte bis gestern für unvorstellbar gehalten. Aber in der Hauptstadt Deutschlands ist es bis zu dieser Stunde achselzuckend akzeptierte Realität mit präziser Adresse: Turmstraße, Moabit.

Wird Deutschland also auch administrativ ein "Hippie-Staat"?

Wird Deutschland also auch administrativ ein "Hippie-Staat", um die britische Kritik am moralischen deutschen Herbstmärchen zu variieren? Freuen kann man sich darüber jedenfalls auf Dauer nicht. Berlin leistet sich seit Jahren in Kreuzberg und Friedrichshain große Zonen manifester Rechtlosigkeit: Weder im Görlitzer Park noch im RAW, der Partyzone im ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk, ist man zu nächtlichen Uhrzeiten vor Diebstahl und Überfall gefeit, ganz zu schweigen von dem geduldeten Dauerverstoß gegen die Betäubungsmittelgesetze.

Gerade läuft eine Kampagne gegen geschmuggelte Zigaretten über deutsche Plakatwände: "Klar rauch ich für die Mafia". Aber die Drogenmafia kontrolliert weite Teile von Kreuzberg und Neukölln, und jeder, vom Innensenator bis zur Bezirksbürgermeisterin, weiß es. Am Südrand des Mittelmeers beginnt eine Völkerwanderung - aber der deutsche Staat verlässt sich auf Bürgersinn und Antifa, auf eine Volksbewegung namens Willkommenskultur. Nein, Deutschland schafft sich nicht ab, aber es ist schon dabei, sich neu zu erfinden.

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