Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsdrama "Terraferma":"Sie wollen ein besseres Leben, aber wir auch"

Was passiert mit einer Insel, auf der Flüchtlinge stranden, während die Einwohner selbst keine Zukunft mehr sehen? Der Film "Terraferma" erzählt, was Darsteller Filippo Pucillo in seiner Heimat Lampedusa selbst erlebt. Ein Gespräch über Hilfsbereitschaft in Krisenzeiten und Dreharbeiten mit ehemaligen Flüchtlingen.

Irene Helmes

Es passiert so häufig, dass die Nachricht kaum mehr Beachtung findet: Flüchtlinge aus Nordafrika ertrinken oder verdursten bei ihrem Versuch, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Diejenigen, die es schaffen, landen meist auf Inseln wie Lampedusa. Was das für sie und die Einheimischen bedeutet, erzählt der italienische Kinofilm "Terraferma", der in Venedig 2011 den Spezialpreis der Jury gewann und soeben beim Münchner Filmfest Deutschlandpremiere feierte.

In "Terraferma" müssen sich die Einheimischen zwischen der - unter Umständen illegalen - Hilfe für die Flüchtlinge und eigenen Interessen entscheiden. Filippo Pucillo spielt die Hauptrolle, "einen jungen Fischer, er ist ein wenig seltsam, ein lustiger Typ, so wie ich", sagt der 22-Jährige. "Terraferma"-Regisseur Emanuele Crialese hat Pucillo vor Jahren auf seiner Heimatinsel Lampedusa entdeckt, als dieser als Junge einen ganzen Baumstamm zu einem Lagerfeuer schleppte. Seither haben sie mehrere Filme zusammen gedreht, der bisher größte Erfolg war der Oscar-nominierte "Golden Door" (2006). Pucillo lebt nach wie vor auf Lampedusa und jobbt zwischen Dreharbeiten am Strand und als Fischer. Sein Traum, sagt Pucillo, sei mit dem Regisseur Ferzan Ozpetek ("Männer al dente") zu drehen. Auf Lampedusa halte ihn wenig, er wolle in nächster Zeit reisen und dann in Rom Sprachen und Schauspiel studieren.

Süddeutsche.de: Sie sind auf Lampedusa geboren und aufgewachsen, leben bis heute dort. Wie war es, in einem Film zu spielen, der von der schwierigen Gegenwart Ihrer eigenen Insel handelt?

Pucillo: Wir haben "Terraferma" gedreht, bevor letztes Jahr in Lampedusa die ganz große Flüchtlingswelle ankam. Boote aus Nordafrika gibt es aber natürlich seit langem. Letztes Jahr habe ich dann mit eigenen Augen gesehen, wie gleich fünfhundert, sechshundert Flüchtlinge auf einmal bei uns gelandet sind. Ihr Traum war es, nach Frankreich zu gelangen, weil viele von ihnen dort Angehörige hatten. So einfach ist es ja aber nicht. Irgendwann waren dann auf Lampedusa 10.000 Flüchtlinge - wir sind selbst nur 6000 Einwohner. Da gab es natürlich Probleme. Aber wir haben unser Bestes getan. Ich habe selber zwei von ihnen nach Hause zum Essen eingeladen, ihnen ein paar von meinen Klamotten gegeben. Wir haben alle unser Bestes getan.

Süddeutsche.de: Alle?

Pucillo: Alle. Die ganze Insel hat an diesem Drama teilgenommen.

Süddeutsche.de: Aber tatsächlich wird doch in "Terraferma" gezeigt, wie die Ankunft der Flüchtlinge die Bewohner spaltet. In diejenigen, die helfen wollen, und andere, die sich überrannt fühlen und fürchten, dass das Image der Insel leiden wird, dass die Touristen wegbleiben.

Pucillo: Es gibt tatsächlich diejenigen, die helfen wollen, während andere sagen, "die ruinieren uns doch die Sommersaison". Manche sehen es so, manche so. Aber es sind doch Menschen wie wir, es geht um Menschen, die Hilfe brauchen, weil sie aus Kriegsgebieten kommen, vor dem Hunger flüchten. So sehe ich das, und so sehen es die meisten von uns.

Süddeutsche.de: Sie haben vier Monate lang auf Linosa, einer winzigen Nachbarinsel von Lampedusa, gedreht. Wie haben die Bewohner auf das Projekt reagiert?

Pucillo: Sie haben sich gefreut, dass sich jemand mit dem Thema beschäftigt und diese Dinge mal zeigt. Es geht schließlich um ihre Realität.

Süddeutsche.de: Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Ankunft der ersten Bootsflüchtlinge - eine Situation, die für die Bewohner der fiktiven Insel im Film ganz neu ist.

Pucillo: Diese Situation der Ankunft haben wir auf Lampedusa ja auch selbst miterlebt. Diejenigen, die sich ans Ufer retten und noch etwas Kraft haben, laufen dann so schnell sie können weg und verstecken sich, damit sie nicht aufgegriffen werden. Nach all dem, was sie hinter sich haben auf den überfüllten Booten, nachdem sie gesehen haben, wie andere ertrunken oder verdurstet sind.

Süddeutsche.de: Wer sind die Darsteller der Flüchtlinge in "Terraferma"?

Pucillo: Die Darsteller waren selbst einmal Bootsflüchtlinge, wobei - diesen Begriff mag ich eigentlich nicht. Die meisten, die im Film mitspielen, arbeiten inzwischen irgendwo auf dem Festland. Aber im Sommer kommen einige regelmäßig zurück nach Sizilien, auch nach Lampedusa. Da verkaufen sie Armbänder, Ketten, Muscheln, kellnern irgendwo. Ihr Leben hat sich jedenfalls sehr verändert.

Süddeutsche.de: Wie war die Zusammenarbeit zwischen ihnen und den italienischen Darstellern?

Pucillo: Nun, die Darsteller der Flüchtlinge haben sich gefreut, den Film zu machen. Hunderte von ihnen sind zu den Dreharbeiten erschienen. Der Regisseur hat gefragt: Könnt ihr denn schwimmen? Sie sagten, klar, wir können schwimmen, kein Problem. Crialese hat sicherheitshalber eine Probe gemacht - und sie konnten nicht schwimmen. Das war aber wichtig. Es gibt im Film eine dramatische Szene, in der gekenterte Flüchtlinge nachts versuchen, sich auf mein kleines Boot zu retten und ich wehre sie panisch ab. Das war extrem schwierig zu drehen, weil wir um die Darsteller Angst hatten, sie mussten dann Schwimmanzüge tragen und so weiter. Am Ende hat es aber geklappt.

Süddeutsche.de: Abgesehen von diesen Komparsen hat auch eine der Hauptdarstellerinnen eine Vergangenheit als Flüchtling: Timnit T. hat selbst eines der berüchtigten Boote überlebt und verkörpert in "Terraferma" eine Figur mit ähnlicher Geschichte.

Pucillo: Inzwischen lebt sie in den Niederlanden, ist verheiratet und hat ein Kind. Das mit der Rolle war ein Zufall. Timnit T. ist 2009 nach Europa gekommen, sie hat eine Überfahrt überlebt, bei der 77 andere Menschen starben, außer ihr haben es nur zwei andere geschafft. Crialese hat kurz darauf ihr Bild in einem Magazin gesehen, auf dem sie aussah, als sei sie gerade im Paradies gelandet. Er hat alles getan, um Kontakt mit ihr aufzunehmen und sie schließlich für den Film engagiert, und dabei auch ein wenig von ihrer Geschichte erzählt.

Süddeutsche.de: "Terraferma" beschreibt eine traurige Ironie. Während die einen ihr Leben riskieren, um die Insel zu erreichen, denkt die einheimische Familie selbst darüber nach, die ärmliche Heimat zu verlassen und aufs wohlhabendere Festland zu ziehen.

Pucillo: Ja, darum geht es. Die Flüchtlinge wollen ein besseres Leben, aber wir auch. Wir leben im Sommer vom Tourismus und natürlich vom Fischen, davon, was das Meer hergibt, aber das ist nicht mehr viel. Im Film wird das Problem durch die beiden Frauen symbolisiert, die Bootsüberlebende - gespielt von Timnit T. - und durch meine Filmmutter. Beide wünschen sich ein besseres Leben. Ich mir übrigens auch. Für mich gibt es doch auch nichts auf Lampedusa, ich will da auch weg, irgendwie rauskommen.

Süddeutsche.de: Italien hat eine lange Geschichte der Emigration, es gab große Wellen, im 19. Jahrhundert, in den 1950er und 1960er Jahren. Sie selbst haben in Crialeses Oscar-nominiertem Film "Golden Door" mitgespielt, der beschreibt, wie eine sizilianische Familie vor hundert Jahren nach Amerika aufbricht. Gibt es in Italien ein besonderes Verständnis für Migranten, weil viele Familien wissen, was es bedeutet, die Heimat zu verlassen?

Pucillo: Früher waren wir selbst die Auswanderer, ja. Aber es war doch etwas anderes.

Süddeutsche.de: In welcher Hinsicht?

Pucillo: Die jetzige Migration scheint mir wilder, unorganisierter. Die Italiener in den 1950er und 1960er Jahren zum Beispiel sind meistens ausgewandert, um Arbeit zu finden, und alles war etwas mehr geregelt. Die Flüchtlinge, die jetzt zu uns gelangen, kommen aus so schlimmen Lebensbedingungen, dass sie zumindest am Anfang schon mit etwas zu Essen zufrieden sind und einem Platz zum Schlafen. Sie sind so verzweifelt, dass sie kommen, egal was sie erwartet.

Süddeutsche.de: Die Grenzbehörden und die Polizei werden in "Terraferma" extrem negativ dargestellt, behandeln die Flüchtlinge sehr schlecht, auch ihre Helfer. Entspricht das Ihren persönlichen Beobachtungen?

Pucillo: Aber ja, so ist es doch einfach. Es ist wie in unserem Film.

Süddeutsche.de: Es gab zuletzt im vergangenen Jahr aufsehenerregende Proteste von Flüchtlingen, die sich gegen die Bedingungen in den Auffanglagern von Lampedusa wehren wollten. Wie haben Sie das erlebt?

Pucillo: Letztendlich gebe ich ihnen recht. Sie sollten doch eigentlich höchstens zwei oder drei Tage auf der Insel sein. Aber nein, stattdessen mussten sie zum Teil monatelang bleiben. Ich glaube, sie fühlen sich eingekerkert. Sie wollen doch arbeiten. In dieser Hinsicht verstehe ich, dass sie protestiert haben. Aber einige haben damals auch gedroht, Gasflaschen explodieren zu lassen, die wollten praktisch die Insel hochgehen lassen. Dann war natürlich die Polizei da und wir Bewohner wurden auch aktiv. Unser Bürgermeister hat damals gesagt, "Wir sind im Krieg".

Süddeutsche.de: In "Terraferma" kommen Auffanglager überhaupt nicht vor.

Pucillo: Das war eine Entscheidung des Regisseurs.

Süddeutsche.de: Finden Sie, dass die Krise, die Europa und auch Italien plagt, etwas verändert in der Einstellung gegenüber den Bootsflüchtlingen?

Pucillo: Es ist alles schwieriger geworden. Auf Lampedusa haben viele in meinem Alter keine Arbeit. Und um die wenige Arbeit, die es gibt, konkurrieren dann alle - wir Einheimischen, Rumänen, Argentinier und die Afrikaner ...

Süddeutsche.de: Wie waren die Reaktionen, als "Terraferma" in Italien ins Kino kam? Die Botschaft des Films ist ja deutlich, nämlich Flüchtlinge willkommen zu heißen.

Pucillo: Halb Italien war auf unserer Seite und halb Italien gegen uns. Wir haben den Film beim Festival von Venedig präsentiert und danach auf Linosa. Dort haben die Leute zum Teil geweint, es gab viel Applaus. Ich hatte Gänsehaut. Im Ausland sind sowieso alle total begeistert.

Süddeutsche.de: Wer hat sich in Italien besonders negativ über den Film geäußert?

Pucillo: Hauptsächlich Politiker, aber auch Journalisten. Im Prinzip die aus dem Berlusconi-Lager, die die Wirklichkeit nicht sehen wollen. Aber wir sind stolz darauf, dass wir diese Wirklichkeit gezeigt haben.

Süddeutsche.de: "Terraferma" beschreibt einen Anfang, die Überraschung, die Überforderung der Inselbewohner. Tatsächlich bleibt das Thema aktuell. Menschen versuchen weiter, über das Mittelmeer Europa zu erreichen, die Auffanglager auf Lampedusa gibt es auch noch. Wie glauben Sie wird es weitergehen?

Pucillo: Inzwischen ist es bei uns ruhiger als letztes Jahr, als Tausende ankamen während des Arabischen Frühlings, besonders während des Libyenkriegs, als Chaos herrschte. Natürlich kommen noch Boote, die kommen ja schon seit 20 Jahren, aber momentan eben nicht mehr so massenhaft wie 2011.

Süddeutsche.de: Warten die Bewohner der Inseln also einfach ab?

Pucillo: Wir kümmern uns um uns selbst, wir arbeiten, wir fischen, wir empfangen die Touristen. Große Initiativen, etwas zu verändern, gibt es keine. Letztlich wollen alle weg von der Insel, auch die meisten meiner Freunde. Aber die wenigsten gehen dann wirklich.

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