Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsdebatte:Für die Ertrinkenden

Eine Lesung des Bestsellerautors Khaled Hosseini in der Londoner Royal Festival Hall, bei der er seine neue Kurzgeschichte vorträgt, wird zur eindringlichen Predigt über das Leid der Flüchtlinge.

Von Cathrin Kahlweit

Die Geschichte von Alan Kurdi, der vor drei Jahren, am 2. September 2015, im türkischen Bodrum tot an Land gespült und zwei Tage später beigesetzt worden war, ist als Foto um die Welt gegangen. Am Strand liegt, auf dem Bauch, ein kleiner Junge in rotem Hemd und blauer Hose, an den Füßen schwarze Kinderschuhe. Er liegt da, als schlafe er, und vielleicht war es die scheinbare Harmlosigkeit der Pose, während der Dreijährige doch zugleich mit dem Kopf im Wasser lag, die aus dem Foto eine Ikone machte, anrührend, und zugleich so schockierend.

Es gab und gibt Tausende Bilder, Foto-Reportagen, Selfies von Flüchtlingen, die es letztlich nicht über das Mittelmeer geschafft haben. Mehr als 1500 Tote und Vermisste waren es bereits in diesem Jahr, mehr als 3000 im vergangenen Jahr, mehr als 5000 vor zwei Jahren. In dem Jahr, in dem Alan Kurdi starb, sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks UNHCR etwa 3700 Menschen mit ihren Booten untergegangen, 2014 mehr als 3500.

Und doch sind es vor allem greifbare, begreifbare Einzelschicksale, oft von Kindern, die eine Welle des Mitleids, der Betroffenheit und der politischen Zusagen auslösen - von Zeit zu Zeit. Auch Alans Mutter und sein Bruder waren an jenem Tag ertrunken, aber es war das ikonografische Foto des Kindes, das im September 2015 in deutschen Medien als "Bild zur größten humanitären Tragödie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg" bezeichnet wurde. Es sei, hieß es, ein Symbol für den Flüchtlingsfriedhof Mittelmeer. Zugleich löste die Aufnahme eine Debatte über die Aufnahme von mehr statt weniger Bürgerkriegsflüchtlingen in Europa aus.

Die Erschütterung politischer Entscheidungsträger über die Toten im Mare Nostrum hat bekanntlich nicht lange vorgehalten. Kurdi starb fast auf den Tag genau an jenem Wochenende, an dem sich die "Flüchtlingswelle" vom Balkan über das saturierte Europa ergoss. In den ersten Septembertagen 2015 marschierten Tausende auf der Autobahn von Budapest nach Wien. Der Rest ist bekannt.

Aber das Kind blieb im Kopf von Khaled Hosseini - Bestseller-Autor, Arzt, Botschafter des UN-Flüchtlingshilfswerks - stecken wie ein Stachel. Hosseini ist ein Superstar. Mit seinen Romanen "Drachenläufer" über eine Kindheit in Afghanistan, mit "Tausend strahlende Sonnen" über zwei Frauen und "Traumsammler" über zwei Geschwister hat er das felsige, karge, von Kriegen zerrüttete Land auch für Nicht-Afghanen zu einem literarischen Schauplatz gemacht. Dort leben seither in der Wahrnehmung der staunenden, lesenden Welt auch Hosseinis Protagonisten, Amir und Hassan, Mariam und Laila, Pari und Abdullah, Menschen mit ihrer Würde und ihren Geschichten. Nun hat der Star ihnen einen siebten hinzugefügt, der allerdings Syrer ist und aus Homs stammt. Marwan heißt er, und ist Alan Kurdi nachempfunden.

Dieses Projekt hatte schon im vergangenen Jahr Gestalt angenommen. Damals hatte Hosseini gemeinsam mit dem britischen Zeitung The Guardian eine illustrierte Geschichte gestaltet, aus der ein animierter Kurzfilm wurde. Nun folgt ein Buch, das aber in gewisser Weise ein Projekt geblieben ist: Die Einnahmen von "Sea Prayer" gehen an das UN-Hilfswerk und an die Stiftung des Autors, mit der er Menschen in Afghanistan unterstützt. Es ist zudem in mehrerer Hinsicht ein Geschenkbuch. Weil es so dünn und hübsch wirkt, weil das Cover so unverdächtig romantisch aussieht, wird es sicher viel verschenkt werden. Und wer es kauft, schenkt damit unter anderem dem UNHCR Geld. Hosseini wiederum schenkt Zeit. Er hat unter anderem Libanon und Sizilien bereist, hat mit Flüchtlingen vor und nach ihrer großen Reise gesprochen.

London ist, in Antithese zu den Zielen des Brexit, immer noch eine besonders offene Stadt

Derzeit steigt die Zahl derer, die mit ihren Schlauchbooten ertrinken, wieder steil an. Denn europäische Mittelmeeranrainer, allen voran Italien, torpedieren mit expliziter Duldung der EU gemeinsame Seenot-Rettungsaktionen wie die Mission "Sophia", zivile Retter werden gestoppt und kriminalisiert.

Die, die von Süden kommen, lässt man auch am dritten Jahrestag des Ertrinkungstodes von Alan Kurdi im Zweifel lieber ersaufen oder überlässt sie der libyschen Küstenwache, als sie aus dem Meer zu fischen. Deshalb war es eher eine Predigt als eine Lesung, mit der sich der in Afghanistan geborene, in den USA lebende Weltstar Hosseini jetzt zu Wort meldete - in London, ausgerechnet. Wo doch die Briten ihren Brexit vor allem auch deshalb unbedingt haben wollten, um endlich weniger Immigranten und weniger Flüchtlinge ins Land lassen zu müssen.

Andererseits ist das Königreich derzeit fein raus. Die EU-interne Debatte darüber, wer wie viele Asylbewerber (nicht) aufnimmt und ob es in Zukunft überhaupt noch eine gemeinsame Flüchtlingspolitik geben kann und soll, wird im Wesentlichen ohne die Briten geführt. Und London ist, in Antithese zu den Zielen des Brexit, immer noch eine besonders offene Stadt.

Das zeigte auch der Ort, an dem der Autor sein neues Buch präsentierte, das derzeit in zahlreichen Ländern und Sprachen zeitgleich an den Start geht. Die Royal Festival Hall war trotz des stolzen Preises von 50 Euro pro Ticket ausverkauft, und das Publikum war verliebt in den eleganten, beredten Mann auf der Bühne. Es gab keine kritischen Fragen, kein Zweifel, keine besorgten Bürger, schon gar keine Wutbürger. Vielleicht, weil die Botschaften des Amerikaners, der selbst als Jugendlicher mit seiner Familie ins Exil musste, so simpel sind: Alan Kurdi darf nicht vergessen werden. Man muss den Flüchtlingen der Welt "Tribut zollen für ihren Schmerz, ihre Angst". Sie haben ein Recht auf Humanität. "Schauen Sie in den Spiegel, jeder von Ihnen kann der nächste Flüchtling sein. Machen Sie sich klar, was es Sie kosten würde, zu tun, was diese Menschen getan haben."

Wann hat das letzte Mal jemand so rührend, so tragisch, so poetisch über Flüchtlinge gesprochen?

In London wurde heftig genickt und dankbar geklatscht. Politische Konsequenzen offener oder geschlossener Grenzen waren kein Thema. Der weltberühmte Schriftsteller dazu, sehr kurz: "Die Zahlen sind mittlerweile so groß, deshalb wenden sich die Leute ab." Er wolle mit seinem neuen Buch "Mitgefühl" zeigen - und wecken.

Das gelingt ihm mit seinem Auftritt, dem einzigen zum Buchstart in Europa. Ob es ihm mit dem Büchlein gelingen wird, darf bezweifelt werden. 50 Seiten mit jeweils ein paar Zeilen Text, dazu seitenfüllende Zeichnungen von Dan Williams: Sea Prayer (auf Deutsch "Am Abend vor dem Meer" im S.Fischer-Verlag) ist, wie der Titel schon sagt, ein Gebet. Ein Vater erzählt seinem kleinen Jungen am Abend vor der Überfahrt von Homs, von der Heimat, an die sich der Kleine nicht erinnern kann, denn er ist zu jung. Und davon, wie Assads Krieg das Land verheert hat. Der Vater weiß, dass sie nicht willkommen sein werden, dort, wo sie hingehen, falls sie jemals ankommen. Und er betet, dass alles gut geht. Denn das hatte er, kühn und fahrlässig wie alle Eltern, versprochen.

Das Büchlein wird sich gut verkaufen; es macht ein schlechtes und ein gutes Gewissen zugleich. Schlecht, weil der Käufer mit dem Erwerb nichts ändert. Gut, weil er gemeinsam mit Hosseini ein gebrochenes Herz haben darf: so viel Unrecht, soviel Leid. Sea Prayer ist, als literarisches Produkt, ziemlich kitschig. Größe bekommt es, weil Hosseini selbst es ohne jede Spur von Zynismus präsentiert. Wann hat das letzte Mal jemand so rührend, so tragisch, so poetisch über Flüchtlinge gesprochen? "Ein Haus ist so groß, wie Du es machst", zitiert der gebürtige Afghane eine Freundin. "Das gilt auch für Nationen."

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SZ vom 06.09.2018
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