Flüchtlinge vom Balkan:Relativ verfolgt

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Migranten besteigen einen Zug in Richtung Ungarn auf dem Belgrader Hauptbahnhof (Foto: Dimitar Dilkoff/AFP)

Wer vom Balkan nach Deutschland kommt, hat fast keine Chance auf Asyl. Doch Begriffe wie "Wirtschaftsflüchtling" und "Asylbetrug" gehen an der Realität vorbei und sind gefährlich.

Von Alex Rühle

Hier ein paar Zahlen aus dem vergangenen Jahr: Frankreich hat 230 von 715 serbischen Asylgesuchen anerkannt, das sind 32 Prozent; Finnland hat die Hälfte aller Kosovaren aufgenommen, die um Asyl gebeten haben. Ähnliche Zahlen gibt es für Asylbewerber aus Bosnien: In Belgien bei 18, in Dänemark bei zwölf Prozent.

Deutschland hat jeweils unter einem Prozent der Asylgesuche aus diesen Ländern stattgegeben, nur jeder tausendste serbische Antrag wurde positiv beschieden, aus Mazedonien waren es 0,3 Prozent, aus Albanien 0,4. Dennoch zog es fast zwei Drittel aller Menschen aus den Ländern des West-Balkan, die im übrigen Europa Zuflucht suchten, eben nach Deutschland. Mehr als 60 000 waren es 2014.

Die Zahlen sind nur bedingt vergleichbar, machen aber deutlich, dass in Europa mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag beschlossen, "Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten im Sinne von § 29a Asylverfahrensgesetz einzustufen". Das hat zur Folge, dass Asylverfahren von Angehörigen dieser Staaten schneller bearbeitet und Abschiebungen schneller angeordnet werden können.

Roma in Serbien erleiden lebensgefährliche Diskriminierung

Nachdem nun verstärkt Asylsuchende aus Albanien, Kosovo und Montenegro kommen, sollen auch diese drei Staaten möglichst schnell diesen Status erhalten. Begründet wird das damit, dass es in diesen Ländern keine politische Verfolgung gebe. Man muss sich aber nur die Jahresberichte von Amnesty International durchlesen, um zu erkennen, dass Angehörige der Roma in Serbien und anderen Balkanstaaten oft lebensgefährliche Diskriminierung erleiden. Laut Genfer Flüchtlingskonvention könnte man all die Brandanschläge auf Romasiedlungen, ihre Ghettoisierung und wirtschaftliche Benachteiligung als "gruppenspezifische Verfolgung" werten. In Frankreich wird das so gesehen.

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Hierzulande nicht. Die evangelische Kirche und das Kommissariat der Deutschen Bischöfe kritisierten in einer gemeinsamen Stellungnahme die Entscheidung, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Die Kirchen schrieben, sie seien überzeugt, dass die politische Lage dort "eine Situation für die Roma geschaffen hat, die in den vielfältigen Formen der Diskriminierung den Tatbestand der Verfolgung erfüllt".

In der Gesamtwirkung ein Zustand der Auswegslosigkeit

Der emeritierte Professor für Völkerrecht Norman Paech kommt nun in einem 140-seitigen Gutachten zur Lebenssituation der Roma in den drei Ländern zum Fazit: "Die vielfältigen Diskriminierungen, die faktisch alle Lebensbereiche der Roma erfassen, mögen für sich genommen jeweils nicht die Intensität erreicht haben, um als Verfolgung qualifiziert werden zu können. In ihrer Gesamtwirkung zusammengenommen haben sie jedoch einen Zustand der Ausweglosigkeit geschaffen, dem viele nur noch auf dem Wege der Flucht zu entkommen glauben." Wohlgemerkt: 90 Prozent der Serben, die im Zeitraum Januar bis März 2015 in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, waren Roma. Von den Bosniern waren es 60, von den Mazedoniern 63 Prozent. Fast alle wurden abgelehnt, siehe sicheres Herkunftsland, also nicht politisch verfolgt.

Wer aber hierzulande nicht politisch verfolgt wird, der kommt in der binären Logik der Flüchtlingspolitik aus "wirtschaftlichen Gründen". Manfred Schmidt, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, sagte kürzlich im Nachtmagazin, die Balkan-Flüchtlinge steuerten Deutschland an, um die Sozialleistungen von 140 Euro pro Monat einzustreichen. Solche Sätze wirken in Zeiten, in denen täglich Flüchtlingsunterkünfte angegriffen werden, wie Brandbeschleuniger.

Wer einem Schlepper Geld gegeben hat, macht sich strafbar

Der Migrationsforscher und Geschichtsprofessor Klaus Bade schreibt in einem eigentlich ganz kühlen Aufsatz über die Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik, "denunziatorische Begriffe" wie Wirtschaftsflüchtling dienten "rechtsextremistischen geistigen und praktischen Brandstiftern als regierungsamtliche Berufungsinstanz".

Wie recht er damit hat, zeigen die Schmäh- und Droh-Mails, die bei allen Flüchtlingshilfsorganisationen eingehen, seit Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer angekündigt hat, spezielle grenznahe Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende aus Balkanstaaten einzurichten. Statt aus diesen abstoßenden Drohbriefen zu zitieren - "Schnauze einschlagen" ist eine der harmlosen Ankündigungen - lieber noch zwei Gedanken: Der Begriff des "Wirtschaftsflüchtlings" ist stets verbunden mit dem Vorwurf des "Asylbetrugs". Von den Asylbetrügern werden die "wirklich Verfolgten" sprachlich scharf abgegrenzt. Dabei geht die Unterscheidung zwischen rein politisch Verfolgten und Wirtschaftsflüchtlingen an der Wirklichkeit vorbei. Wie der Münchner Soziologe Armin Nassehi es formuliert: "Heutige Fluchtgründe sind komplexer - was heißt Verfolgung, wenn Wirtschafts- und politische Strukturen völlig zusammengebrochen sind, wenn es keine Zukunftsperspektive gibt, wenn man um die eigenen Kinder fürchtet?"

Außerdem machen sich durch die Neuregelung des Aufenthaltgesetzes auch alle edlen, weil rein politischen Flüchtlinge verdächtig: Ab sofort darf jeder Flüchtling in Haft genommen werden, der auf seiner Flucht einem Schlepper Geld gegeben hat, mit gefälschten Dokumenten gereist ist oder die Bearbeitung seines Asylantrags in einem anderen europäischen Land nicht abgewartet hat. Da das auf so gut wie alle Flüchtlinge zutrifft, ob sie nun aus Syrien, Eritrea oder Serbien kommen: Sind das ab sofort auch alle Asylbetrüger?

© SZ vom 30.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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