Flüchtlinge in Deutschland:Pjöngjang? Freilassing!

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Diese ehemalige Möbelhalle hat das Bundesamt gemietet, um Asylsuchende zu registrieren. Allein, sie bleiben aus. (Foto: SZ)

Unter strengster Bewachung hat sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Freilassing eingerichtet. Nur: Was wird dort eigentlich bewacht? Flüchtlinge jedenfalls nicht.

Von Rudolf Neumaier

Freilassing fügt sich ins Alpenmilchidyll des Berchtesgadener Lands wie Pommes zu Rehragout, ein Keyboard zur Stubnmusi, ein Wohnblock auf eine Kitschpostkarte und - ach. Wenn man zu lange herumsitzt in der Sägewerkstraße von Freilassing, kommt man schon mal ins Grübeln. Aber Freilassing, dieser in einer eher ungünstigen Phase der Baustilgeschichte aus dem Boden gestampfte Grenzposten zu Salzburg, kann ja nichts dafür. Und viel interessanter wäre es sowieso, wie die Menschen Freilassing sehen, die seit vielen Monaten jeden Tag in der Sägewerkstraße sitzen und darüber wachen, dass nichts passiert, wo nichts mehr passieren kann. In der tristesten Ecke dieser Stadt.

Und? Wie ist's hier so? "Keine Auskunft."

Der Mann, der nichts sagt, sitzt am Hinterausgang eines ehemaligen Möbelhauses in der Freilassinger Sägewerkstraße und bewacht eine Tür. Er macht das beruflich, privater Sicherheitsdienst. Das Gebäude ist jetzt kein Möbelhaus mehr, sondern eine Dependance des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Die Behörde hat es gemietet, die Bundespolizei ist als Untermieter präsent. Als über die österreichische Grenze viele Flüchtlinge kamen, ungefähr bis Mitte 2016 und manchmal 2000 am Tag, war es fast zu klein hier. Schon seit mehr als einem Jahr aber tuscheln die Leute in der Gegend vom bewachten Gespensterhaus in Freilassing. Das sei sehenswert.

Es wäre natürlich schön, dieses Gebäude zu inspizieren. Aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf, teilte mit, kurzfristig sei e in Besuch in der E inrichtung nicht möglich. Na gut, dann eben vorerst mal ein Besuch vor der Einrichtung und die Rückmail, wann denn eine Besichtigung möglich sei.

Man kann von der gegenüberliegenden Straßenseite gut in manche Räume blicken. Dort stehen Mitarbeiter des Bamf. Sie reden miteinander, manchmal schauen sie ein paar Minuten aus dem Fenster, dann unterhalten sie sich wieder. Zu arbeiten haben sie - mangels Migranten - offensichtlich nichts an diesem sonnigen Tag.

Nochmal zum Hintereingang. Der Mann vom Sicherheitsdienst darf nicht einmal sagen, was er bewacht. Er hat es sich auf einem alten Wohnzimmersessel bequem gemacht, raucht Zigaretten und schaut. Schaut. Schaut. Schaut. Weil es kalt ist, zupft er manchmal seine Decke zurecht. Schauen ist eine interessante Aufgabe. Doch Menschen beim Schauen zuzuschauen, wird selbst dann etwas eintönig, wenn diese Menschen in den Genuss eines Ausblicks auf den sonnenbeschienenen Untersberg im Schneemantel kämen, aber lieber nur in die leere Sägewerkstraße schauen. Auf die banalste Frage, die es gibt, beflissen mit der Antwort "Keine Auskunft" abgespeist zu werden, ist hingegen ein Erlebnis. Es weckt Neugier.

"Genießen Sie denn nicht den Ausblick? Was machen Sie denn da?" - "Keine Auskunft."

"Kann ich Ihnen etwas zum Lesen bringen?" - "Alles gut. Ich sage nichts."

Die Fragen machen den rauchenden Wächter stutzig. Da will einer ganz schön viel wissen und schleicht stundenlang um das Gebäude. Seeeehr verdächtig.

Sehenswert ist ja auch der Haupteingang. Hinter der Glasfront sitzt ebenfalls ein Wächter. Er hat die Augen geschlossen. Eine Minute, zwei Minuten... Ob er schläft? Er reißt die Augen auf, als um Punkt 11.45 Uhr jemand von hinten herantritt und ihm die Hand auf die Schulter legt. Wachablösung im Nirwana. Mittagspause. Gleich neben dem Bamf-Gebäude, am Eingang der Sägewerkstraße, steht ein McDonald's, letzter Außenposten der belebten Welt. Von hier aus lässt sich das staatliche Mietobjekt trefflich beobachten. Ein weiterer Mitarbeiter des privaten Sicherheitsdienstes tritt vor den Haupteingang und steckt sich ein Zigarettchen an. Es muss anstrengend sein, nichts zu bewachen. Wenige Augenblicke später tritt ein Polizist hinzu und raucht ebenfalls.

Bei McDonald's läuft Antenne Bayern. Gleich wird es sehr surreal. Die 12-Uhr-Nachrichten, erste Meldung: "Wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mitteilt, ist die Zahl der Flüchtlinge rapide gesunken." Schade, dass die beiden Raucher das jetzt nicht hören. Dann könnten sie ihren Vorgesetzten berichten, dass ihnen dieser Rückgang der Flüchtlingszahlen auch schon aufgefallen sei.

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Damit ist die Zahl der neu nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückgegangen. Damals waren es etwa 280 000 Menschen.

Wer in diesem verlassenen Winkel des Weltgeschehens die Zeitung liest, während eine Mitarbeiterin des Bamf mit Ja-wo-bleiben-sie-denn?-Blick auf die Sägewerkstraße an einem Fenster lehnt, kommt ins Zweifeln. In Berlin streiten Politiker, die demnächst dieses Land regieren wollen, über eine Obergrenze für Flüchtlinge. Wenn diese Frage wirklich noch relevant wäre, könnte Freilassing zur Obergrenzenwachanlage aufsteigen. Aber so? Irgendwer müsste die Groko-Aspiranten vielleicht mal daran erinnern, dass sie die Türkei und ein paar andere Staaten dafür bezahlt haben, Europa für weitere Migranten abzuriegeln. Und dass die Ungarn und die Österreicher an ihren Grenzen auf Nummer sicher gehen.

Das Bamf nennt diese Einrichtung "Bearbeitungsstraße". Zwei weitere sind in Passau und Rosenheim installiert. Bearbeitungsstraße. Klingt nach Autowaschanlage, Fabrik, Fließband - und passt in diese Gegend von Freilassing, wo tatsächlich einmal Industrie brummte und dampfte. Bearbeitet wurde hier Holz. Die Wortkünstler vom Bamf dehnen nun, kreativ wie sie sind, den Begriff Bearbeitungsstraße auf den fließbandmäßigen Umgang mit Menschen aus: "In einer Bearbeitungsstraße werden Asylsuchende registriert, fotografiert und von Ärzten untersucht."

Der Spaziergang nach dem ausgedehnten Mittagsmahl im amerikanischen Schnellimbiss führt auf einen abgelegenen Parkplatz vor rostenden Hochbehältern und Hallen mit eingeschlagenen Fenstern. Die alte Holzfabrik. Hier sieht Oberbayern wie Duisburg Nord aus oder wie Bitterfeld nach der Wende oder wie - - - ehe die Grübelei wieder ausschweift, meldet sich eine Stimme von hinten. "Ich muss Sie auffordern, dieses Gelände umgehend zu verlassen." Eine junge Frau, sie trägt die Uniform des privaten Sicherheitsdienstes.

"So? Was ist das denn für ein Gelände?"

"Dieses Gelände gehört zu dem Objekt dort drüben. Sie dürfen sich hier nicht aufhalten. Bitte verlassen Sie diesen Platz."

"Selbstverständlich! Kein Problem. Aber Ihr Objekt, was ist das denn?"

"Keine Auskunft."

Nach der Rückkehr zum Objekt, und zwar zum Hintereingang mit dem rauchenden Wachmann, belagern den Passanten, der sich längst als Journalist vorgestellt hat, nach wenigen Augenblicken fünf Vertreter des privaten Sicherheitsdienstes. Als hätten sie ein Staatsgeheimnis zu hüten, und dieses bestünde darin, dass in drei Schichten 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche ein Schauspiel aufgeführt wird, neben dem die absurdesten Stücke von Eugène Ionesco wie harter Realismus wirken. Nicht einmal das Schild mit der Aufschrift "Der Notausgang ist nur um Notfall zu benutzen!!!" darf man abschreiben - und fotografieren ist absolut verboten. Können die nordkoreanischen Nukleartestfabriken besser geschützt sein? Kaum.

Besichtigung? In zwei Monaten!

Francisco Alvarez, der Automechaniker von gegenüber, sieht dieses Schauspiel jeden Tag. Seit etwa anderthalb Jahren habe er in der früheren Möbelhalle keinen Betrieb mehr erlebt. Doch wenn seine Kunden einen halben Meter zu weit auf der von der Bundesrepublik Deutschland angemieteten Fläche parken, dann daure es "keine 53 Sekunden, und es steht schon einer von der Security da". Aber das stört ihn keineswegs. Dafür verfüge er schließlich über die bestbewachte Werkstatt von Freilassing. "Ich könnte einen Goldbarren aufs Dach legen, er wäre am nächsten Tag noch da."

Nach der Rückkehr aus Freilassing liegt vom Bamf die Antwort auf die Frage nach einem Besichtigungstermin im Mailpostfach. "Bezüglich eines Besuchs der Bearbeitungsstraße Freilassing können Sie gerne in zwei Monaten nochmals auf uns zukommen."

Telefonische Nachfrage: Warum erst in zwei Monaten? Eine Sprecherin sagt, gerade seien in Freilassing "eine Handvoll neue Mitarbeiter eingestellt" worden. Ehe diese eingearbeitet seien, ergebe ein Rundgang keinen Sinn. Neue Mitarbeiter? Für einen Laden ohne Kundschaft? Nächste Mail ans Bamf. "Dürfen die Personen, die in dieser Einrichtung arbeiten, Bücher oder Zeitungen lesen, im Internet surfen, ein Fernsehgerät betätigen oder Brett- und/oder Computerspiele durchführen, wenn - wie es öfter vorkommt - in ihrer Schicht keine Geflüchteten kommen?" Das Bamf teilt mit, die Mitarbeiter übernähmen andere Aufgaben des Amtes. Leider geben sie definitiv keine Deutschkurse für Flüchtlinge.

Zu den Kosten für den Sicherheitsdienst schweigt das Bamf. Im vergangenen Jahr seien in Freilassing 532 Asylsuchende erfasst worden. Das sind im Durchschnitt nicht einmal anderthalb pro Tag. Tendenz stark abnehmend, wie im McDonald's zu hören war. Wie viele Einsatzkräfte der private Sicherheitsdienst pro Schicht bereitstellt, wird "nicht veröffentlicht" - "wegen der Sicherheitsrelevanz". Schreibt das Bamf. Die Geheimnistuerei geht am Ende so weit, dass ein paar Tage danach ein Polizist eine junge Fotografin darauf hinweist, es handle sich um ein öffentliches Gebäude, das sie nicht ablichten dürfe. Pjöngjang? Freilassing.

Die Stille hier könnte vorbei sein, wenn die Türkei wieder Flüchtlinge in den Westen jagt

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Insbesondere beim Thema Familiennachzug für Flüchtlinge mit geringem Schutzstatus stocken die Verhandlungen. SPD-Vize Dreyer zeigt sich aber zuversichtlich, dass ein schneller Kompromiss möglich ist.

Womöglich rechnen die Strategen dieses Amtes damit, dass sich deutsche Regierungspolitiker endlich bemerkbar gegen die türkischen Attacken auf die Kurden in Syrien positionieren. Dann wiederum könnte die Türkei zur Demonstration ihres Platzes am längeren Hebel Flüchtlinge zu Hunderttausenden in den Westen jagen - mit Adressstempel Freilassing. Oder die Sudanesen lassen wieder Eritreer über die Grenze, die mit europäischer Unterstützung verschlossen wurde. Aber könnte man denn nicht die Mitarbeiter in der Freilassinger Sägewerkstraße bis dahin zum Skifahren schicken oder für Integrationskurse freistellen? Zumindest so lange, bis sich in Berlin wieder richtige Regierungspolitiker herausgemendelt haben?

Letzter Versuch, hinter die Kulissen dieser tristen Fassade zu gelangen. Ein Anruf bei der Bundespolizei, Co-Mieterin des Bamf. Kein Problem, sagt ein Beamter, jedenfalls nicht im Teil, den seine Behörde untergemietet hat. Ist ja kein Staatsakt.

Im ehemaligen Möbelhaus ist alles angerichtet. Bierbänke. Computer. Bauzäune, mit Folien behängt. Hier lassen sich Fingerabdrücke und Körpermaße Ankommender erkennungsdienstlich erfassen. Der Sprecher der Bundespolizei versichert, noch sei seine Behörde dringend auf diese Möbelhalle angewiesen. Denn die eigene Inspektion befindet sich in Freilassing in einem Provisorium, das für mehr als sechs Migranten definitiv zu klein wird.

Das Oktoberfest in München, mehr als sechs Millionen Klienten in zwei Wochen, wird jedes Jahr auf- und abgebaut, und die Beschäftigten arbeiten dort, solange Zapfhähne und Fahrgeschäfte laufen. Das Bamf in Freilassing, 532 Klienten im Jahr, arbeitet weiter. Rund um die Uhr. Wie lange? Keine Auskunft, teilt das Amt mit. Man müsse die Gespräche in Berlin abwarten.

In der Bearbeitungsstraße von Freilassing zieht eine Frau mit Wischmopp ihre Bahnen. Immerhin, für die Wächter vom Sicherheitsdienst ist das eine nette Abwechslung, wenn sich etwas bewegt.

© SZ vom 06.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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