Flüchtlinge in den 50er Jahren:Deutsche Vagabunden

Flüchtlinge in den 50er Jahren: Zwei Jungen im "Jugendselbsthilfewerk" Buchhof am Starnberger See, 1950.

Zwei Jungen im "Jugendselbsthilfewerk" Buchhof am Starnberger See, 1950.

(Foto: Nachlass Ré Soupault/VG Bild-Kunst)

Zwischen Bunkern, Nachkriegselend und Wiederaufbau: 1950 dokumentiert Ré Soupault eine Flüchtlingskrise, die verblüffende Ähnlichkeit zur aktuellen Situation aufweist.

Von Hans-Peter Kunisch

Ré Soupault, so exzentrisch wie der Name klingt, hört sich ihr Leben an: Studium am Weimarer Bauhaus, Modemacherin, Fotografin, Essayistin, erst in Berlin, dann in Paris. Geboren wurde Meta Erna Niemeyer 1901 als siebtes Kind eines Metzgers und Viehhändlers in Bublitz, Pommern.

Das elegante Ré war die französisierte Verkürzung ihres Pseudonyms als Fotografin, Renate Green. Mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Philippe Soupault, zieht sie 1938 nach Tunis, 1943 emigrieren die beiden nach Mexiko, dann in die USA.

1945 trennen sie sich. Ré bleibt in New York. 1948 zieht sie nach Basel, arbeitet vor allem als Übersetzerin, von 1958 an sieht man sie wieder in Paris. Seit 1973 wieder mit Philippe Soupault zusammen, stirbt sie 1996 in Versailles.

Nach einer dreiwöchigen Reise durch Deutschland im September 1950 entstand Ré Soupaults Fotoreportage über deutschstämmige Flüchtlinge aus dem Osten, dürr übertitelt "Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem".

Soupaults Nachlassverwalter Manfred Metzner hat diese Reportage jetzt zum ersten Mal herausgegeben. Sie verblüfft durch ihre Nähe zur heutigen Situation.

"Diese Kinder bettelten und stahlen, schliefen in Höhlen oder Ruinen"

Zwölf Millionen Flüchtlinge gab es damals in Deutschland: "Bei meinen Besuchen in den Wohnlagern Bayerns, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins habe ich kaum einen Flüchtling gesehen, der allein über ein Bett verfügt hätte." Ein Hauptthema ist die drohende Verwahrlosung der Jugendlichen: "Seit 1945 haben diese Kinder ein Vagabundendasein geführt. Sie bettelten und stahlen, schliefen in Höhlen oder Ruinen. Hunderttausende gingen damals zugrunde. Andere hatten Glück und gerieten nach Westdeutschland. Hin und wieder wurden sie von einer Fürsorge aufgegriffen, verschwanden aber wieder, bis schließlich das Vagabundendasein zur Gewohnheit wurde." Als ein Problem erscheint der Staat, der sich um "diese Halbwüchsigen" nicht kümmert. Man sehe sie "in Kneipen, Vergnügungslokalen, in den Bahnhofsgegenden herumziehen".

Einige Seiten später benennt Soupault die "Gefahr" des Problems und Lösungsansätze: "Es kommt doch für diese jungen Menschen nicht darauf an, dass sie gelegentlich eine Beschäftigung finden, sondern dass sie in ein Berufsleben, in ein sinnvolles Dasein hineinwachsen. Sie müssen vor völliger Entwurzelung gerettet werden, damit sie nicht der Raub eines gefährlichen Radikalismus werden, der ansteckend wirkt." Der Radikalismus, vor dem Soupault als Nutznießer der Verwahrlosung warnte, war der Kommunismus, sie kannte Berichte aus Pommern.

Auch sah sie die Unterschiede in den Schicksalen. Einzelne "Volksgruppen" fänden sich besser zurecht. Sie beobachtet, wie sich Sudetendeutsche in Süddeutschland recht schnell aufrappeln: "Textil-, Spielwaren-, Metall- und Schmuckwarenfabrikanten, Geigenbauer, Glasbläser, Holzschnitzer, Kunsttischler usw., sie kommen allmählich wieder zu Arbeit und Brot (...). Die Industrialisierung Bayerns wird durch diesen ungeheuren Zuwachs an Betrieben ganz wesentlich gefördert." Soupault schildert, wie in Geretsried bei München, wo noch grasgetarnte Bunker der "Deutschen Sprengindustrie" und der "G.m.b.H. zur Verwertung chemischer Erzeugnisse" stehen, eine neue Gemeinde wächst. Sie spricht mit Vertretern der Vertriebenenverbände, hebt ihre Leistung hervor. Wobei ihr auffällt, dass sie "oft von Jalta oder Potsdam sprechen", wo die Nachkriegsordnung festgelegt wurde, mit der sie hadern, "aber nie darauf hinweisen, dass das nazistisch-militaristische Deutschland die direkte Ursache von Jalta und Potsdam gewesen ist".

"Ein Flüchtling darf in seine Heimat zurückkehren. Wir sind Vertriebene"

Über Waldemar Kraft, den stellvertretenden Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, schreibt sie, "es heißt, er sei SS-Offizier gewesen". Was stimmt, wie der Herausgeber im informativen Anmerkungsteil nachweist. Interessant aber auch, dass Kraft "ein tiefgehendes Sozialprogramm" fordert. "Welche Freiheit hätten die Heimatlosen und Entrechteten sonst wohl gegen den Osten zu verteidigen?" Krafts Referentin Gräfin Finckenstein, die das jüngste ihrer sieben Kinder auf der Flucht verloren hat, weist die Bezeichnung 'Flüchtling' entschieden zurück: "Ein Flüchtling darf in seine Heimat zurückkehren. Wir sind Vertriebene."

An manchen Stellen fehlt dem Text Soupaults etwas Anschaulichkeit, aber die selbstverständliche Umsicht und Präzision in der Wertung dessen, was sie sieht, stellt ihre Reportage an die Seite von Hannah Arendts klassischem Essay "Wir Flüchtlinge". Soupault beweist einen unauffällig genauen sozialen Blick, der schon ihre 1938 entstandene Reportage "Eine Frau allein gehört allen" über alleinstehende Frauen in Tunis kennzeichnete. Sie verfügt über eine bewundernswerte gleichschwebende Grundaufmerksamkeit.

Ré Soupault: Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- u. Flüchtlingsproblem 1950. Mit Bildteil. Herausgegeben von Manfred Metzner. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016. 64 S., 17,80 Euro. E-Book 13,99 Euro.

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