Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge auf der Frankfurter Buchmesse:Bücher statt Krieg

Ein organisierter Ausflug auf die Frankfurter Buchmesse? Brauchen Flüchtlinge nicht anderes viel dringender? Ein Ortsbesuch liefert Antworten.

Von Kathleen Hildebrand, Frankfurt

Bisrat steht auf der Terrasse von Halle 3 und schwenkt sein Handy. Ganz langsam, von links nach rechts. Er filmt das bunte Gewusel auf der "Agora", dem großen quadratischen Platz zwischen den Hallen der Frankfurter Buchmesse, auf dem es Kaffee-, Crêpes-Stände und ein Lesezelt gibt. Von einer Bühne klingt orientalische Musik herüber. Bisrat ist 28, Eritreer und seit anderthalb Jahren in Deutschland. "In Eritrea war ich Soldat. Es ist immer Krieg in meinem Land", sagt er. "Das ist nicht gut."

Heute ist der Krieg sehr weit weg. Zwischen Teenagern mit neonfarbenen Perücken, blau angemalter Haut und spitzen Elfenohren aus Gummi, zwischen den 7000 Ständen der Buchmesse, inmitten stockender Menschenmassen ist er wahrscheinlich noch weiter weg als sonst in Bisrats Rüsselsheimer Unterkunft. Der Ausflug ist für ihn eine großartige Abwechslung: "Dort ist es immer nur so: Essen, Schlafen, Essen, Schlafen." Bisrat findet sich auf der auch für Deutsche sehr stressigen Messe gut zurecht, seit einem Jahr lernt er Deutsch, mit Zeitungen und Lehrbüchern. Am Ende der Führung ist er schnell verschwunden und sieht sich allein um.

Freikarten für Flüchtlinge

Bisrat ist einer von Hunderten Flüchtlingen, die am Buchmessensonntag durch die Hallen geführt werden. Insgesamt hatten sich 616 für die Freikarten angemeldet, die der Börsenverein des deutschen Buchhandels bereitgestellt hatte. Am Vormittag haben die ersten acht sich zum Börsenverein-Stand durchgekämpft. Sie kommen aus Eritrea, Afghanistan und Algerien, aus Bad Homburg, Rüsselsheim und Wiesbaden.

Die Idee, Flüchtlinge, die gerade erst angefangen haben Deutsch zu lernen, auf die Frankfurter Buchmesse einzuladen, ist prädestiniert dazu, Augenrollen auszulösen. Egal, wem man davon erzählt, die Reaktionen gehen immer so: Das sei es ja nun wirklich nicht, was diese Menschen bräuchten. Ist das Marketing?

Zum Glück wurde zumindest die erste Frage auf der Buchmesse schon diskutiert, bevor die Flüchtlinge kamen. In der Sektion "Weltempfang" sprachen Flüchtlingshelfer aus dem Libanon über Sinn und Unsinn von Kulturprojekten in Flüchtlingslagern - mit sehr differenziertem Ergebnis. Natürlich brauche man einem ausgehungerten, erschöpften Menschen keinen Theater-Workshop anzubieten.

Kunst gegen Traumata

Wenn aber die Grundbedürfnisse gedeckt seien - und in libanesischen Flüchtlingscamps mit ihren Millionen Bewohnern ist das schon schwierig genug -, dann sei es extrem wichtig, mit Kunst Gemeinsamkeit zu stiften, Traumata verarbeiten zu helfen und die Identität zu stärken. Allein mit Nahrung und einem Dach über dem Kopf sei das emotionale Vakuum, das eine Flucht hinterlasse, nicht zu füllen. Zumal viele Tausend Flüchtlinge nicht nur übergangsweise in den Camps leben, sondern Jahre, manche sogar Jahrzehnte.

Ganz ähnlich sieht das Zeiros Keiros Abraham, Initiator des Projekts "Team AfriQa" in Frankfurt, einem Rennradverein für Flüchtlinge aus Eritrea. Weil die Buchmesse einen sehr weiten Kulturbegriff hat, lag es nicht so fern, wie man auf den ersten Blick denken könnte, den Radsport ins Kulturprogramm für die Flüchtlinge aufzunehmen. "Bei uns ist Rennradfahren Volkssport", sagt Abraham. "Aber die Ausrüstung ist teuer. Und kein Eritreer will allein trainieren, man fährt zusammen, es geht uns bei dem Sport auch um Gemeinschaft."

Das Team AfriQa plant eine Radtour nach Berlin - um Danke zu sagen für die Unterstützung der Deutschen. "Aber auch um zu zeigen: Wir sind nicht nur Flüchtlinge. Wir hatten ein Leben davor und wir werden eines danach haben. Wir können etwas." Und: "Flüchtlinge brauchen keine Hilfe. Sie brauchen Zugang zur Gesellschaft, zu Arbeit und auch zur Kultur."

Dass er damit recht hat, sieht man gut in den wachen Augen dieser Buchmessengäste, man hört es an ihrem fröhlichen Getuschel, dem Kichern der 18-jährigen Loa, ebenfalls aus Eritrea, die allein mit ihrem Bruder nach Deutschland geflohen ist. Als er an einem schon fast abgebauten Stand eine Handvoll Werther's Echte ergattert, will sie eins haben. Kurz darauf verteilt jemand Werbe-Tassen. Als man sich erkundigt, ob sie eine bekommen habe, lacht sie, legt einem die Hand auf die Schulter und sagt: "Ja. Willst du auch eine?"

Nur anonyme Massen könnten Ängste schüren, sagte der Schriftsteller Albert Ostermaier am Tag zuvor in einer Diskussion. So wie die Flüchtlinge ein Gesicht, eine Stimme bekämen, sei das plötzlich unmöglich. Die "vornehmste Aufgabe" von Kultur sei gerade das: den Stummen eine Stimme zu geben. Wenn es eine "Begegnung auf Augen- und Herzhöhe" gebe, sagte Ostermaier, dann könne die Gesellschaft davon profitieren. Zum Beispiel durch die Stärkung des Buchs. Bibliotheken und Buchhandlungen sollten sich als Orte des geistigen Austauschs neu erfinden, schlug Buchmessen-Chef Jürgen Boos vor. Das koste Geld, sei aber eine Investition in die Zukunft des ganzen Landes.

Auf der Buchmesse hat das nun schon wunderbar geklappt. Zum Einsatz des Börsenvereins gehören neben den Freikarten am Messesonntag auch "Leseecken" in Flüchtlingseinrichtungen in ganz Deutschland - mit Deutsch-Lehrbüchern, aber auch Romanen in den wichtigsten Herkunftssprachen.

Zumindest ein bisschen Deutsch können alle aus der Gruppe jener ersten acht, die am Sonntag über die Messe zog. Die Begrüßung der Börsenverein-Mitarbeiterin haben sie also verstanden: Die hatte ihre Arme ausgebreitet, die Hände zusammengelegt und gesagt: "Die Bücher sagen Willkommen. Die Menschen, die Bücher lieben, sagen Willkommen."

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