Süddeutsche Zeitung

Fluchtgeschichten:Hass und Hilfe

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Erfahrungen und Hoffnung dreier Jugendlicher, von 1939 in Nazi-Deutschland, über 1994 in Kuba, bis 2015 in Syrien.

Von Martina Scherf

Viel wird über Flüchtlinge diskutiert. Soll man sie aufnehmen, wen, wie viele, und was kostet das alles? Was diese Menschen erlebt haben, was sie mitbringen, das kommt selten zur Sprache, schon gar nicht in den Schulen. Dabei sitzen heute in vielen Klassen Flüchtlingskinder. Sie hätten einiges zu erzählen. In seinem Jugendroman "Vor uns das Meer" gibt der amerikanische Autor Alan Gratz drei Kindern eine Stimme, stellvertretend für alle, die ihre Heimat verloren.

Josef ist ein jüdischer Junge in Nazi-Deutschland. Nach der Reichsprogromnacht ist sein Leben und das seiner Familie bedroht. Die Familie schafft es an Bord der St. Louis, jenes Flüchtlingsschiffs, das mit fast 1000 deutschen Juden an Bord im Mai 1939 von Hamburg nach Havanna fährt. Den Schrecken der Konzentrationslager vor Augen, hoffen sie, in Kuba ein neues Leben beginnen zu können. Doch die Hoffnung wird jäh zerstört, kein Hafen in Amerika nimmt die Flüchtlinge auf.

Isabel ist ein kubanisches Mädchen, 1994, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in seinem Land. Lebensmittel sind knapp, Unruhen erschüttern das Land. Eines Nachts steigt Isabel mit ihrer Familie und den Nachbarn in ein wackeliges Boot mit Kurs auf Florida. Sie wollen in den USA ein neues Leben beginnen. Schaffen sie es bis an die Küste, erhalten sie ein Visum. Werden sie vorher von der Küstenwache aufgegriffen, müssen sie zurück nach Kuba. So lautet das amerikanische Gesetz.

Mahmoud ist ein syrischer Junge, dessen Haus 2015 von den Truppen des Diktators Assad in Aleppo zerbombt wird. Verzweifelt machen sich seine Eltern mit ihm, dem kleinen Walid und dem Baby Hana auf den Weg. Zu Fuß in die Türkei, im Boot nach Griechenland, dann wieder zu Fuß über Serbien, Ungarn, Österreich bis nach Deutschland.

Drei Kinder in drei Kontinenten zu verschiedenen Zeiten - was sie erleben, ähnelt sich auf traumatische Weise. Sie erfahren Anfeindungen und Hass, aber auch Hilfe und Solidarität. Und sie werden über Nacht erwachsen, müssen Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen. Der Autor wechselt ständig zwischen den Geschichten und schildert in eindringlichen Bildern, wie seine Protagonisten die Angst vor dem nächsten Tag durch die Hoffnung auf Frieden am Ende der Reise überwinden. Auch wenn Gratz an mancher Stelle vielleicht überzeichnet: die Bilder, die er erzeugt, bleiben lange im Gedächtnis.

Der Anhang enthält Karten mit den Fluchtwegen und jugendgerechte Fakten zur politischen Einordnung. Es ist kein zu schwerer Stoff für Zwölf- bis 15-Jährige. Vielmehr weckt das Buch Verständnis und Empathie. Das ist umso wichtiger, sagt der Autor selbst, in Zeiten, in denen Jugendliche vermehrt rassistische Bemerkungen hören, von Mitschülern, Erwachsenen, Politikern. Denn es ist das Alter, in dem sich Vorurteile festigen.

Alan Gratz: Vor uns das Meer. Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel. Hanser Verlag, München 2020, 290 Seiten, 17 Euro.

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SZ vom 29.06.2020
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