Süddeutsche Zeitung

Flucht vor dem Brexit:Das war's dann

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Der Theaterregisseur Walter Meierjohann hat in England Karriere gemacht. Dann entschieden sich die Briten für den Abschied von der Europäischen Union. Jetzt beginnt er von vorn - mit Shakespeares "Romeo und Julia" am Theater Osnabrück.

Von Alexander Menden

Mutter Capulet ist sauer. "Häng dich doch einfach auf, du kleine Schlampe!", schreit sie Julia an, weil die sich Bedenkzeit vor der Hochzeit mit dem Freier Paris erbeten hat. Als Christina Dom, die das Haupt der Capulet-Familie spielt, die Probebühne im Theater Osnabrück verlassen hat, bleibt Juliane Böttgers Julia zurück. "Kotz dich mal richtig aus jetzt", sagt Walter Meierjohann. Der Regisseur interveniert nur selten bei dieser Durchlaufprobe. "Los knutschen, ran an die Buletten", fordert er einmal, als Romeo und Julia nicht leidenschaftlich genug ihre heimliche Trauung feiern. Sonst geht es vor allem um Technisches an diesem Nachmittag. Es muss auch laufen, denn am 1. Februar ist Premiere - einen Tag nach dem offiziellen EU-Austritt Großbritanniens, dem Land, in dem Meierjohann eine vielversprechende Karriere aufgebaut hatte.

In Manchester brachte er deutsche und britische Bühnentraditionen zusammen - etwas Neues entstand

Auf einer deutschen Bühne hat er hingegen schon seit sechs Jahren nicht mehr inszeniert. Im Jahr 1971 als Sohn deutscher Eltern in Amsterdam geboren, in Holland und den USA aufgewachsen, war er bis vor Kurzem im englischen Theater verwurzelt. Bis 2018 leitete er die Theatersparte des Home-Kulturzentrums in Manchester. Vorher, von 2007 bis 2013, war er associate director am Londoner Young Vic gewesen. Verheiratet mit einer britischen Dramaturgin, sah er seine Zukunft im Vereinigten Königreich.

Am 23. Juni 2016 fiel allerdings die Entscheidung zum EU-Ausstieg, und alles veränderte sich: Zum einen bestärkte der Brexit Meierjohann "mehr als alles andere in dem Gefühl, ein überzeugter Europäer zu sein, in meiner Verbundenheit zu Europa als einem über das wirtschaftliche hinausgehenden, zwischenmenschlichen Gedanken". Zum anderen war aber schon bald klar, dass er unter den veränderten politischen und wirtschaftlichen Umständen nicht Chef in Manchester bleiben wollte.

Walter Meierjohann war an das frisch gegründete, hochambitionierte Dreispartenhaus geholt worden, weil man sich mit einem international geprägten, zukunftsträchtigen Programm profilieren wollte - und einer anderen Ästhetik, als das englische Theater sie sonst bot. Ausgebildet an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch kam Meierjohann nach Arbeiten in Österreich und Deutschland, unter anderem am Münchner Residenztheater, nach England. Die Leitung der Home-Sprechbühne war ein Karrieresprung in eine der prominentesten Theaterpositionen außerhalb Londons.

Meierjohanns Produktionen, etwa seine bösartige Tingeltangel-Version von Ödon von Horvaths "Kasimir und Karoline" in einer Neufassung von Simon Stephens, stufte die britische Presse als "radikal" ein. Die deutsche Kritik hätte sie wahrscheinlich eher "texttreu" gefunden. In Wirklichkeit war das Projekt in Manchester der Versuch einer Synthese der besten Aspekte britischer und deutscher Theatertraditionen: britische Sprachbeherrschung und Charakterzeichnung, gepaart mit Mut zu Körperlichkeit, mehr intellektueller Neugier auf die Abgründe vermeintlich vertrauter Texte. Es schien der Anfang von etwas aufregend Neuem zu sein.

Als anderthalb Jahre nach der Eröffnung das Brexit-Referendum kam, zeigte die Home-Geschäftsführung Solidarität. "Aber es gab einen tiefen Einschnitt ins Budget der Kommune", sagt Meierjohann. "Die Städte bluten, an jeder Ecke steigt man über Obdachlose. Eine nicht barbarische Gesellschaft sollte nicht vor die Frage gestellt werden, Kultur oder Sozialhilfe? Unser Programm war nicht mehr zu finanzieren." Als sich wegen des Brexit Geldgeber für internationale Koproduktionen zurückzuziehen begannen, entschloss er sich - ohnehin bereits tief erschüttert durch die britische Abwendung von der EU -, seinen Posten aufzugeben.

Spontan wäre er am liebsten gleich ganz nach Berlin gegangen. Zunächst zog die Familie aber nach London, wo seine Frau jetzt bei einem Festival in Kingston upon Thames arbeitet. Er selbst pendelt einstweilen zwischen der Insel und dem Kontinent. Statt ein eigenes Hauses zu leiten, hat er begonnen, wieder im deutschen Theater Tritt zu fassen. Dass die erste Station ein niedersächsisches Stadttheater wurde, ergab sich unter anderem daraus, dass Meierjohann den Osnabrücker Dramaturgen Jens Peters aus London kannte, wo dieser studiert und an diversen Theatern gearbeitet hatte.

Nach dem Brexit gab es einen tiefen Einschnitt in das Kulturbudget. Da gab er auf

Romeo und Julia war das Stück, mit dem Meierjohann in Manchester seinen Einstand gab, was ihm Gelegenheit zu einer vergleichenden Bestandsaufnahme gibt. Zum Beispiel stellt der Regisseur in England die Besetzung jeweils vollständig aus freischaffenden Schauspielern zusammen. Das Ensemblesystem, das in Deutschland Standard ist, existiert nicht. In Deutschland muss man bei den Probezeiten darauf Rücksicht nehmen, dass alle Akteure nebenher noch im Repertoireprogramm spielen. Umgekehrt hätten die Darsteller eines eingespielten Ensembles nicht all die in England üblichen Hürden des Kennenlernens, der physischen Zurückhaltung zu überwinden, was viel Zeit spare, sagt der Regisseur. Die gestalterischen Unterschiede seien spannend - wie man einen Text denkt, ob man "in" einer Rolle ist wie die Briten oder beobachtend danebensteht wie die Deutschen.

Die Probe ist mittlerweile vorüber, Walter Meierjohann ist ziemlich zufrieden mit dem Durchlauf. Er habe das Gefühl, hier tatsächlich eine Geschichte zu erzählen: "Dem Text erst mal zuzuhören und damit die szenische Fantasie zu entwickeln, ist etwas, das ich eindeutig in England gelernt habe", sagt er. Dort gebe es das deutsche Misstrauen vor der zusammenhängenden Story nicht. Doch fehle es auf der Insel in Regie und Ästhetik oft an Mut und Ideen, um wirklich Weltklasse zu sein.

Der Brexit wird es den jungen Regisseuren, die dank der Reisefreiheit mehr Kenntnis des kontinentaleuropäischen Theaters haben als irgendeine Generation vor ihnen, sehr schwer machen, hier zu arbeiten und sich international zu vernetzen. Das empfindet Walter Meierjohann als bitter. Für ihn ist klar: "Ich komme nicht als derselbe zurück, der ich vor 15 Jahren war, und möchte das, was ich in Großbritannien gelernt habe, in Deutschland anwenden. Die Wut über den Brexit, diese Energie, will ich in etwas Positives kanalisieren."

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SZ vom 30.01.2020
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