Flucht und Literatur:Die eine Hälfte ist tot, die andere Hälfte will leben

Daily Life In Syria

Letzte Ausfahrt vor der Katastrophe: eine Straße in Syrien im März 2011.

(Foto: Matthew Lloyd/Getty)

Syrien, das hieß Schreiben, Denken, Bücher - und Krieg. Deutschland ist die Rettung. Aber es verschlägt einem hier die Sprache.

Gastbeitrag von Chadar Al-Agha

Syrien hieß für den Schriftsteller Chadar al-Agha Schreiben, Denken, Bücher - und irgendwann: Krieg. Deutschland war für ihn die Rettung. Aber es verschlägt ihm die Sprache. Auszüge aus seinem Text für das Projekt "Ankunft. Literarische Reportagen von geflüchteten Autoren" auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin.

Kaum drei Monate nach Beginn der Revolution, im Juni 2011, wurde mir mein Job als Chefredakteur einer syrischen Kulturzeitung gekündigt, weil ich die Revolution unterstützte. Einer der Verantwortlichen im Kulturministerium, in dem ich arbeitete, sagte in Anwesenheit eines Geheimdienstmitarbeiters zu mir, ich solle schweigen und zu Hause bleiben, andernfalls würde es mir nichts mehr nützen, dass ich ein Dichter, Schriftsteller und Chefredakteur sei.

Menschen, die es gut meinten, informierten mich, dass Geheimdienstberichte über mich verfasst worden seien, sie diese jedoch verbrannt hätten. Meine Furcht und mein Misstrauen wurden immer größer, ich begann, mich mit äußerster Vorsicht zu bewegen, sowohl im Privatleben wie auch in der Öffentlichkeit.

Als mein Sohn ins Auto stieg, setzte sich mein Herz neben ihn. Besser, er war mein Herz

Anfang 2013 erhielt ich eine Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung, als Gastschriftsteller in der Nähe von Köln zu leben. Ich zögerte, schließlich wollte ich mein Land nicht im Stich lassen. Aber in Syrien konnte ich nichts tun. Die Revolution hatte sich gezwungenermaßen bewaffnet, Raketen des Regimes gingen wenige Meter neben mir nieder, Flugzeuge überflogen mein Haus, Checkpoints unterbrachen die Verbindungen zwischen Städten, Vierteln und Straßen.

Mein Sohn Aram hatte Syrien mit seiner Mutter Richtung Deutschland verlassen, nachdem eine Rakete in der Nähe seines Schulbusses eingeschlagen war. Danach hatten seine Mutter und ich entschieden, ihn nicht mehr in die Schule gehen zu lassen. 2012 machten sich mein Sohn und seine Mutter auf den Weg nach Deutschland. Er war zehn Jahre alt.

Als das Auto für die Fahrt nach Libanon eintraf, war Aram gerade beim Essen. Er ließ alles stehen und ging hinaus, und als er sich ins Auto setzte, setzte sich mein Herz neben ihn oder besser, Aram selbst war mein Herz im Auto. Während der gesamten Strecke nach Libanon konnte ich in Damaskus seine Schläge hören, sein Weinen, ich sah seinen Blick zurück, seine Hand, die mir zum Abschied zuwinkte. Ich wurde zu einem menschlichen Wrack. Seine Stimme, als er mich aus Deutschland anrief, seine Fragen nach seinen Freunden, seinem Spielzeug, seinen Schildkröten, seinem Fahrrad und seine Worte: "Ich will dich hier haben!" - all das gab schließlich den Ausschlag, dass ich Syrien Richtung Deutschland verließ.

Ich bin gespalten

Meine Sehnsucht nach Aram glich jenem Zustand, den die muslimischen Mystiker das "Sehen" nennen: eine Phase der Annäherung an Gott, die der Mystiker nach großen Mühen erreicht, bis er Gott von Angesicht zu Angesicht entgegentritt und ihn "sieht". Als ich auf dem Weg zu Aram war, hatte ich das Gefühl, ich sei auf dem Weg zum "Sehen". Mit diesem Gefühl versuchte ich, vor mir selbst zu rechtfertigen, dass ich mein Land im Moment seiner Vernichtung verließ.

Ich hatte mich nicht von meiner Familie verabschieden können, insbesondere nicht von meiner siebzigjährigen kranken Mutter, die wenige Monate nach meiner Ankunft in Deutschland starb. Ich stellte mir vor, ihr Grab sei das Grab der Geschichte. Ich stellte es mir als Kathedrale vor, in der die Menschen Ehrfurcht vor dem Dasein verspüren. Dabei hätte sie unbedingt weiterleben sollen, bis sie gesehen hätte, dass sich mein Traum verwirklichte: die Erhebung der Syrer gegen das Regime.

Im Oktober 2013 kam ich nach Deutschland. Ach, wäre Syrien doch ein unentdecktes Land! Ach, hätte ich doch keine Heimat! Wäre ich doch ein Wesen aus dem All, und würde wie im Märchen von einem Ort zum anderen wandeln, um in Deutschland unbeschwert leben zu können. Ich bin gespalten: Die eine Hälfte hier ist tot, die andere Hälfte dort will leben.

Kann man sich dem Krieg schreibend entgegenstellen?

Das Schreiben hätte mich hier retten müssen, so wie es mich dort immer gerettet hat. Denn ich habe im Heinrich-Böll-Haus tatsächlich geschrieben. Ich beendete ein Buch, das zu schreiben mir in Syrien wegen des Krieges nicht möglich gewesen war.

Doch die Frage, auf die ich keine Antwort fand, lautete: Kann man sich dem Krieg schreibend entgegenstellen? Kann das Schreiben den Menschen in großen Krisen wirklich helfen? Oder stellen sich die Menschen ihrem Leid eher mit der Energie des Lebens entgegen und überwinden es mit dieser Kraft? Entwickeln sie ihre Möglichkeiten und ihr Handeln durch die Kraft der Erfahrung? Obwohl ich Schriftsteller bin, neige ich nicht dazu, dem Schreiben diese Fähigkeit zuzusprechen, sondern sehe sie eher in den Erfahrungen und der Kraft der Völker.

Nachdem ich das Buch beendet hatte, wurde mir das sehr deutlich. Der Zweifel am Sinn des Schreibens hat mich bis heute davon abgehalten, das fertige Buch zu veröffentlichen.

Einmal stellte mich ein Journalist bei einem Interview als Lyriker und Schriftsteller vor, der ein syrischer Flüchtling sei. Ich ein Flüchtling? Ich widersprach: "Ich bin doch kein Flüchtling, ich habe eine Mutter in Syrien, Brüder und Schwestern und Freunde, ich habe ein Land, darin habe ich ein Zuhause, ich besitze viele Bücher, sehr viele sogar, und ich habe dort eine Sprache - und ich werde zurückkehren."

Bis ich das Heinrich-Böll-Haus verließ und nicht zurück nach Syrien, sondern nach Lübeck zog und dort ein neues Leben begann, konnte ich nicht ermessen, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein. In jenem Haus bei Köln hatte ich ein Zuhause gehabt, bin ein willkommener Gast gewesen, ein Schriftsteller. Doch in nur einem Tag wurde ich plötzlich zum Flüchtling.

Die Stadt, sie schien stark zu sein und ich schwach

In Lübeck war ich allein, ich war so einsam, dass ich hörte, wie mein Blut durch die Adern floss. Wie jemand, der nicht lesen und schreiben kann, lief ich umher. Ich, der all diese Bücher gelesen hatte.

In Lübeck stand ich Deutschland von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wir waren wie zwei Ringer in einer Arena. Immer wieder bezwang mich die Stadt, sie schien stark zu sein und ich schwach, sie schien kompakt zu sein und ich gespalten, sie schien äußerst hart zu sein und ich fragil, denn sie hatte eine starke Sprache, während ich sprachlos war.

Der Flüchtling in mir wuchs immer rascher, bis er zu einem Riesen wurde und mich wie ein Monster verschlang, es verschlang mich total, sodass ich mich selbst nicht mehr sah und die anderen mich nicht mehr sahen. Ich war nichts als ein Flüchtling.

Flucht und Literatur: Der syrische Schriftsteller Chadar al-Agha

Der syrische Schriftsteller Chadar al-Agha

(Foto: Jonas Wölk)

Ich beobachte von Deutschland aus, wie mein Land zusammenbricht

Früher konnte ich die Dinge durch die Sprache erklären, das Leben, die Gedanken, die Bedeutungen, die Geschichte, die Seele. In einem Buch über die syrische Poesie beschrieb ich diese als sprechende Sprache. Ich ging von der Sprache aus, um die Poesie zu verstehen und zu erklären. In einem anderen Werk widmete ich mich den ersten Stimmen des Menschen, seiner ersten Sprache, der Sprache, die sein Sein begründete. Martin Heideggers Formulierung "Die Sprache ist das Haus des Seins" gibt mir die Kraft zur Interpretation. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, über die Sprache nachzudenken und in der Sprache zu denken.

"Der Mensch verbirgt sich in den Falten der Zunge", sagte ein alter arabischer Schriftsteller

Im Alten Testament heißt es, die Kraft des Riesen Samson liege in seinem Haar. Als sein Haar geschnitten wurde, war er nicht mehr der alte. Für mich war die Sprache das Haar des Menschen, seine Kraft und sein Sein. Ein Mensch ohne Sprache ist ein totes Wesen. In Deutschland wurde mir das Haar geschnitten. Ich wurde ein totes Wesen.

Alle Bücher, die ich gelesen, die ich geschrieben, an denen ich mich beteiligt, für die ich ein Vorwort geschrieben und die ich herausgebracht hatte, verloren ihre Bedeutung. Einer der alten arabischen Schriftsteller sagte einmal: "Rede, denn der Mensch verbirgt sich in den Falten seiner Zunge." Aber wie soll ich sprechen?

Ich rufe mir wieder das Bild ins Gedächtnis, wie ich in Syrien zwischen all meinen Büchern sitze, an meinem Schreibtisch, ein Buch nehme, es zurück ins Regal stelle, andere herausnehme und vor mir auf den Tisch lege. Ich war jemand, der sein Sein ertastete und seinen Körper berührte, um sich zu vergewissern, dass er er war.

Ich hatte voller Vertrauen gelesen und geschrieben. Ich hatte einen Dialog mit den Büchern und den Autoren geführt, die im Regal aufgereiht waren, auf dem Schreibtisch lagen, in der Küche und auf dem Balkon. Ich sprach laut mit ihnen, sodass die Nachbarn mich irgendwann für besessen hielten. Und ich bin ja besessen von Büchern, vom Schreiben und der geistigen Arbeit.

Ich kam ohne meine Bücher und ohne meine Schriftsteller hierher, und nun gibt es keinen Beweis dafür, dass ich existiere. Hier bin ich nur ein Wesen, das sich sein eigenes Bild von dort ins Gedächtnis ruft. Eine Hälfte von mir ruft so laut sie kann: "Ich will meine Wohnung, ich will meine Familie, ich will meine Bücher und meine Autoren!" Die andere Hälfte schweigt, kann weder schreien, noch die neue Realität akzeptieren. Ich sitze am Schreibtisch, ohne zu schreiben, und glaube den bekannten Biografien exilierter oder ausgewanderter Schriftsteller nicht, die für lange Zeit am Ort ihres Exils lebten, ohne zu schreiben, und wieder zum Schreiben zurückkehrten. Ich glaube ihnen nicht.

Ich beobachte von Deutschland aus, wie mein Land zusammenbricht, auseinanderfällt, zerstört wird, und ich sehe, wie die Syrer nach wie vor auf alle möglichen Arten sterben. Jeden Tag wird die Distanz zwischen uns ein wenig größer. Meine Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses Krieges schwindet, meine Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr schwindet, und meine Hoffnung auf die Möglichkeit eines ruhigen Lebens schwindet.

Und weil ich nicht glaube, dass das Schreiben den Krieg beenden und das Leiden und die Schmerzen der Menschen mildern oder ihnen Hoffnung auf Erlösung bieten kann, fühle ich mich nutzlos, ohnmächtig, wirkungslos.

Trotzdem werde ich weiter für die Syrer schreiben, für sie schreien und sie beweinen. Ich werde nicht aufhören, den Mörder zu benennen und ihn mit allen Mitteln zu entlarven. Und ich werde auf die Welt zeigen, die ihm hätte Einhalt gebieten können, aber einen verbrecherischen Diktator sechs Jahre lang ungehindert sein Volk töten ließ.

Aus dem Arabischen von Larissa Bender.

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