Süddeutsche Zeitung

Flucht und Ankunft:Aushalten, gefälligst

Mehr als die Biografie einer Einwanderin: Marina Frenks Debütroman "Ewig her und gar nicht wahr" ist ganz im Ton einer inneren Explosion gehalten. Er wirft die Frage auf, ob man denn unbedingt ankommen muss.

Von Theresa Hein

Kira erstickt ihren Freund beim Sex zwischen den Oberschenkeln. Praktischerweise liegt sein Kopf gerade zwischen ihren Beinen. Kira ist die Heldin des Romans "Ewig her und gar nicht wahr" von Marina Frenk und bildet sich den Mord nur ein. Hofft man. Ganz sicher sein kann man sich bei diesem Buch nie.

Kiras Halluzinationen werden dem Leser nicht angekündigt, wie es etwa Max Frisch in "Mein Name sei Gantenbein" in den Sechzigerjahren tat. Und doch probiert auch Marina Frenks Kira Geschichten aus. Manchmal nachts im Schlaf, manchmal schleichen sich die Halluzinationen in ihren Berliner Alltag. Nur dass Kira Libermann die Anprobe der Geschichten, anders als Gantenbein, nicht genießt. Sie landet in verschlingenden Tagträumen, in denen sie Gliedmaßen verliert, ihr Sohn sie erstickt, ein Elefant sie mit seinen Geschlechtsteilen bedroht. Wann die Momente kommen, in denen sie abgleitet, kann sie nicht vorhersehen. Kira war mal als Künstlerin erfolgreich, bevor sie eine Depression und dann ein Kind, Reihenfolge unerheblich, bekam. Der Realitätsverlust ist das Symptom einer tiefer liegenden Erkrankung, an der mehrere Generationen dieser Familie leiden, und die im Laufe dieses Debüts die Hauptrolle einnimmt: absolute Entwurzelung.

Der Krieg ist die eine Erinnerung, die alle in dieser Familie verbindet

Kira Libermann ist wie ihre Schöpferin, die Autorin und Schauspielerin Marina Frenk, in eine jüdisch-russische Familie in der Republik Moldau geboren und kam mit ihren Eltern in den Neunzigerjahren nach Deutschland. Die Erinnerungen an die Flucht auf dem Rücksitz eines Lada, in dem vorne ihre Eltern streiten, wann genau sie ihre Scheidung einreichen sollen (Montag geht nicht, da ist die Flucht geplant), gehören zu den bewegendsten Szenen des Romans. Außerdem die Traumsequenz, in der Kira ihrer ganzen Familie in einem Güterwaggon aus den Vierzigerjahren begegnet: Alle sind aus unterschiedlichen Phasen ihres Lebens zusammengekommen, Tote wieder auferstanden, Alte haben sich verjüngt. So können sich der Großvater und sein Enkelkind noch kennenlernen, bevor sich einer von beiden zu Tode säuft. Zwischen Frauen in Achtzigerjahre-Klamotten und Patriarchen stehen ein Haufen sowjetische und deutsche Soldaten herum. Der Krieg ist die eine Erinnerung, die alle in dieser Familie verbindet - egal wer wo und in welchem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren ist.

Marina Frenk springt in ihrem Debüt zwischen Kiras Erinnerungen umher, der Leser lernt sie als Kind, junge Erwachsene, und werdende Mutter kennen. Und begleitet sie bei ihrem Leben in Berlin mit Kind, Partner, Misstrauen und Depression im Hier und Jetzt. Außerdem gibt es Kapitel aus der Kindheit und Jugend der Mutter, der Großmutter, aus der Zeit des Großvaters im Lazarett während des Zweiten Weltkrieges, die Liebesgeschichte der Großeltern. Dazwischen noch die erwähnten Tagträume. Es passiert einige Male, dass man zurückblättern muss, um nicht aus Versehen den Großvater väterlicherseits mit dem Großvater mütterlicherseits zu verwechseln, und auch immer wieder, um zu überprüfen, ob Kira ihren Partner Marc, diese Nervensäge, jetzt eigentlich umgebracht hat, oder nicht. Der Plot lässt sich am ehesten als fragmentarischer Erinnerungsstrom verschiedener Menschen beschreiben. Schwer zu ertragen ist dabei der dauerdepressive Ton der Erzählerin, den Frenk aber leichter Hand ablegt, sobald sie die Perspektive wechselt und ein anderes Familienmitglied erzählen lässt.

Kira hat ihr Leben nur, weil die Eltern sich entschieden haben, mit ihr zu flüchten, damit sie frei und glücklich wird, fühlt sich aber alles andere als das. Manchmal findet Frenk keinen anderen Weg, Kiras Hilflosigkeit zu beschreiben, als alles niederknüppelnde Abstraktionen: "In Verbindung mit einem einzelnen Menschen verabschiedet man sich von allen Moden und aller Aktualität und auch von der Jugend, lässt die absolute Unabhängigkeit als nicht wahrgenommene Herausforderung hinter sich und nimmt die Verantwortung an."

Dieser Satz soll umschreiben, wie nervenaufreibend es sein kann, eine Familie zu haben, aber als Leserin steht man ähnlich hilflos vor den Substantiven wie vor dem imaginierten Elefantengemächt: Was ist jetzt eigentlich das Problem? Kinder - oder doch der Satzbau?

Wer dieses Buch gelesen hat, fühlt sich so erschöpft, als sei er auf einem Berg gewesen

Ähnlich schwer tut sich Frenk zwischendurch mit den Dialogen. Die wirken manchmal, als würden sich zwei sehr alte Menschen unterhalten, in deren Hörgeräten die Batterie schwächelt. "Was, wenn das irgendwann nicht mehr so ist?", fragt Kira an einer Stelle. "Was?", fragt Marc daraufhin zurück. "Wenn ich irgendwann nicht mehr über dich lachen kann?", fragt Kira. "Du lachst mich aus?" gibt Marc zurück, worauf als nächster, logischer Satz von Kira folgt: "Du bist erwachsen, Marc!"

Es ist nicht einfach, dieses Buch zu lesen, stellenweise ist es nicht mal ein Vergnügen. Alles ist im Ton der "inneren Explosion" gehalten, von der Kira erzählt, erst lethargisch, dann aufgekratzt, dann passiv aggressiv. In einem Moment versetzt Alleinsein in der Wohnung Kira in Panik, im nächsten kann sie es kaum erwarten, Partner und Kind aus dem Haus zu haben, ehe sie die Tür schließt und vor Anstrengung im Flur zusammenbricht.

Wer dieses Buch gelesen hat, fühlt sich ungefähr so erschöpft, als sei er den ganzen Tag auf einem Berg gewesen. Aber man begreift auch, dass sich die Autorin all das, was man als zu viel empfindet, nicht ausgesucht hat. Die Aufforderung der Autorin an den Leser lautet: aushalten, gefälligst. Hier schreibt eine, weil sie muss. Und weil Kiras Einwandererstory keine singuläre Geschichte ist, sondern sich nicht ohne die ihrer Familie erzählen lässt, wird das Buch zu einer europäischen Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts, Subtext: Zeig mir die europäische Ahnenreihe ohne Wanderung, Flucht, Vertreibung, und ich zeige dir, dass es sie eigentlich nicht geben kann.

Man legt "Ewig her und gar nicht wahr" dann doch nicht aus der Hand, weil es darin Szenen gibt, die einen kurz im Lesen stocken lassen, schrecklich und einzigartig zugleich. Wie Kira verzweifelt versucht, auf der Toilette eine Fehlgeburt gewaltsam wieder in sich hineinzustopfen. Oder wie Kiras Mutter von der zweiten Familie ihres Vaters erfährt. Und das nur, weil sie sich von einer geheimen Schachtel mit Briefen so angezogen fühlt, wie das nur einem Kind gehen kann, das weiß, wie verboten der Gegenstand der Anziehung ist.

Wenn Frenk es sich einfach hätte machen wollen, hätte sie sich am Erfolg des aktuellen deutschen Buchpreisträgers Saša Stanišić orientiert, ein paar Figuren ausgetauscht und ihr Buch mit dem Stempel "Osteuropa-Erinnerungen" versehen. Aber hat sie nicht. Auch für Frenk bedeutet Ankommen nicht, physisch die Grenze zu einem Land, das ab sofort Heimat sein soll, zu überschreiten. Aber nicht mal ein neues Zuhause, nicht mal ein Kind muss Ankommen bedeuten. Man kann sich auch im 21. Jahrhundert sehr, sehr verloren fühlen. Auch in Deutschland, in Berlin, im gentrifizierten Friedrichshain als junge Mutter. Und wer sagt denn überhaupt, dass man ständig ankommen muss?

Marina Frenk: Ewig her und gar nicht wahr, Verlag Klaus Wagenbach, 240 Seiten, 22 Euro.

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SZ vom 14.03.2020
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