Kunst: Wenn Müll Blüten treibt
Zum "Flower Power Festival", das derzeit aus München ein Reich der Naturschönheit macht, gehört auch Plastikmüll. Wie sich das gehört, stammt der Müll aus Berlin. Das hier abgebildete Blumengebinde ist im Botanischen Garten in Nymphenburg zu sehen - als Beispiel für das "Wegwerfkulturschaffen" der Berliner Phänomenologin Juli Gudehus. Es heißt: "Ariel, Edelbunt, Gemeiner Sprühkopf & Heidedose" und besteht aus Verpackungswahnsinn. Also aus Resten von unkaputtbaren Flaschen, Dosen, Bechern oder Tuben, mit denen wir täglich tonnenweise die Welt zuschütten. Ein Teil davon landet bei Gudehus, die als Floristin der Plastikallgegenwart "Müllblüten" daraus macht. Sie nennt ihre Aktion "Die Natur der Sache", worin schon die Ambivalenz zwischen Umwelt und Dingwelt aufscheint. Ist der Müll nicht schön? Aber warum ist es dann Müll - und kein Wertstoff? Gerhard Matzig
"Heike Monotagari": Japanischer Klassiker, Autor unbekannt
"Giftige Insekten wie Bremsen, Mücken, Wespen und Ameisen sammelten sich in Scharen auf seinem Körper und stachen und bissen ihn, doch er rührte sich nicht im Geringsten und blieb sieben Tage lang liegen." Mongaku will es wissen. Deshalb legt sich, "als im gleißenden Sonnenlicht die Grashalme unbewegt dastanden", dieser buddhistische Mönch und Asket nackt in die Natur und lässt sich von den Insekten foltern. Für einen wie Mongaku aber ist das gar nichts. Deshalb stellt er sich bei Schnee und Eiswind auch in einen Wasserfall und beginnt die dreihunderttausend Wiederholungen einer Dhāranī-Beschwörung. Beim ersten Versuch wird er abgetrieben, beim zweiten, er ist gerade am Sterben, greift ein Gott helfend ein. Logisch, dass ein religiöser Extremist wie Mongaku auch eine Rebellion anstiftet.
"Heike Monogatari. Die Erzählung von den Heike" (Reclam), der Autor ist unbekannt, ist übervoll von solchen plastisch geschilderten Charaktergestalten. Da wird gern gekämpft und geköpft, aber auch geliebt und noch viel lieber intrigiert. Geht es doch in diesem japanischen Mittelalterklassiker um einen brutalen und Jahrzehnte dauernden Machtkampf zwischen zwei Clans, den Heike, auch Taira genannt, und den Genji (Minamoto). Bis heute liefert die nie aus der japanischen Kultur ausgeblendete Erzählung den Rohstoff für Filme, Pop und Literatur. Nur die noch ältere und psychologisch raffinierte "Genji Monogatari" (Geschichte vom Prinzen Genji) ist ähnlich populär. Doch während die "Genji" schon länger in einer modernen Übersetzung vorliegt, hat die "Heike" auf den grandiosen Übersetzer Björn Adelmeier warten müssen, der in jahrelanger Arbeit den 844-Großseiten-Schmöker jetzt herausbringen konnte (Reclam, 80 Seiten). Adelmeier schafft spielend den Spagat zwischen den Sprachebenen, dem nüchternen Chronistenton, der Fantastik, Kriegsrhetorik, Religion, Emotionalität und den eingestreuten Gedichten. So fern diese Intrigen des 12. Jahrhundert sind, so vertraut und nah sind sie dem Leser aus der heutigen Politik. Und im bluttriefend finalen Showdown werden alle Hoffnungen und Illusionen gnadenlos weggeräumt. Reinhard Brembeck
"Element of Crime": Bitte nie ändern
Es gibt diese Bands, bei denen man sich wünscht, dass sie niemals aufhören, dass sie sich niemals verändern und niemals anfangen, aus Hipness-Panik Songs mit Rapperinnen aufzunehmen. Die Band Element of Crime hat all das auf ihrem neuen Album beherzigt. Schon der Titel "Morgens um vier" deutet an, dass die Musiker in etwa da hängen, wo sie vor ein paar Jahrzehnten begonnen haben: spätnachts im Kneipendunst, in der Verwirrung, melancholisch seufzend, weil es für alles Vernünftige um diese Uhrzeit zu spät ist und jetzt ausschließlich falsche Entscheidungen getroffen werden. Auch musikalisch haben sie sich angenehm wenig bewegt. Sie bleiben auf ihrem 15. Studioalbum der charmant gezupften Gitarre, dem Akkordeon, vereinzelten Streichern und vom Liebeskummer geprügelten Zeilen wie "das Leben ohne Liebe ist nicht so einfach wie du glaubst" treu. "Wir haben keine Lösung, wir haben Lieder", singt Frontmann Sven Regener. Und nichts anderes will, nichts anderes braucht man von dieser Band. Marlene Knobloch
Serie "Beschütze sie": Not schweißt zusammen
Nur einen Zettel hinterlässt Owen seiner Frau Hannah (Jennifer Garner): "Beschütze sie" steht darauf - gemeint ist Owens Tochter Bailey, ein störrischer High-School-Teenie, der seine Stiefmutter nicht mag. Owen selbst ist einfach verschwunden, er ist morgens zur Arbeit gegangen, aber als das FBI sein Büro hochnimmt, weil die Software-Firma, Wirecard lässt grüßen, ihre Anleger betrogen hat und es die Software gar nicht gibt, ist er nicht dort. Die sieben Episoden von "Beschütze sie" (Apple TV+) sind richtig spannend. Unter den Thriller-Serien ist diese zudem ein wenig besonders: Die Geschichte hat etwas Tröstliches. Fast alle Protagonisten sind hier nicht durch und durch böse, bloß Getriebene ihrer eigenen Biografie. Die beiden Frauen schweißt die Not jedenfalls zusammen, als Mutter-Tochter-Gespann, fast wie gewachsen. Susan Vahabzadeh
Buch "Plötzlich Hip(p)": Weiß weiblich deutsch. Und Jazz-Pionierin
Jutta Hipp, die große Vergessene des deutschen Nachkriegsjazz, erlebt seit einigen Jahren eine überfällige Wiederentdeckung - nicht nur als Pianistin zwischen Cool und Hardbop, sondern als unerschrockene, innerlich unabhängige Künstlerin. Kürzlich hat Ilona Haberkamp, selbst Jazzmusikerin, eine gut recherchierte Biografie dieser Jazz-Pionierin vorgelegt: "Plötzlich Hip(p): Das Leben der Jutta Hipp zwischen Jazz und Kunst " ( Wolke V.-G). Man liest sie mit angehaltenem Atem, auch weil Jutta Hipps Lebensentscheidung für den Jazz oft wagemutig und riskant ist.
Als sie 1956 in New York drei Platten für das Label Blue Note aufnimmt, ist sie nicht nur die erste Deutsche, sondern die erste weiße Musikerin überhaupt, die das berühmteste Jazzlabel der Welt unter Vertrag nimmt. Mit 17 Jahren entdeckt sie in Leipzig, mitten im Zweiten Weltkrieg, die in Hitler-Deutschland verbotene Musik: "Jazz war unsere Religion", erzählt sie später. "Ich erinnere mich an Nächte, wo wir nicht in den Luftschutzkeller gingen, weil wir Platten hörten. Obwohl die Bomben um uns einschlugen, fühlten wir uns sicher, oder zumindest, wenn wir nicht überlebt hätten, wären wir mit schöner Musik gestorben."
Direkt nach dem Krieg, mit grade mal 20 Jahren, wird sie professionelle Jazzmusikerin. Weil das in Leipzig nicht lange gut geht, zieht sie 1946 in den Westen. Schnell spielt sie mit den wichtigen deutschen Jazzern, Größen wie Albert Mangelsdorff oder Hans Koller. Fotos zeigen eine wild geschminkte Schönheit mit langen, roten Haaren, eine Jazz-Radikale, damals die einzige Frau auf den Bühnen der Jazzclubs. Ein paar Jahre und viele Club-Auftritte später ist sie die erste Deutsche, die den Sprung in die Jazz-Hauptstadt der Welt wagt und nach New York geht - ein ziemlich hartes Pflaster, erst recht für eine Frau, erst recht für eine Deutsche. Sie jammt mit Charles Mingus, bewundert Horace Silver und spielt in angesagten Clubs, aber nach drei Jahren im New Yorker Jazz-Überlebenskampf kann sie nicht mehr. Sie steigt abrupt und konsequent aus und arbeitet die nächsten 37 Jahre, bis sie 70 wird, als Zuschneiderin in einer Textilfabrik in Queens, der Preis eines selbstbestimmten Lebens. Peter Laudenbach