Süddeutsche Zeitung

Buch "Flaschenpost":Vom Versuch, die Ozeane zu durchschauen

Wolfgang Struck beschreibt mit großer Liebe zum Detail, wie ein Forscher im 19. Jahrhundert die Meeresströme enträtseln wollte: mithilfe von Flaschenpost.

Von Irene Helmes

Ein junger Mann spricht Mitte des 19. Jahrhunderts bei Alexander von Humboldt vor, präsentiert Ideen für ein Observatorium in Australien, es geht um Ozeanströmungen und vieles mehr. "Ich will gern freundlich antworten, aber was?", klagt der berühmte Naturkundler daraufhin gegenüber einem Bekannten: "Auf eine sentimentale Correspondenz über vage Lebenspläne kann ich mich nicht einlassen." Vernichtend für den jungen Wissenschaftler - und doch am Ende nur eine Episode in einem Forscherleben, das sehr wohl konkrete Entdeckungen hervorbringen wird. Und das der Literaturwissenschaftler Wolfgang Struck in seinem Buch "Flaschenpost" rekonstruiert.

Es geht um Georg Neumayer (1826-1909), der es nach holprigem Karrierestart zum ersten Hydrographen der Kaiserlichen Admiralität brachte. Posthum wurde die erste deutsche Polarforschungsstation nach ihm benannt. Unter seinen vielen Ideen wirkte jene, Flaschen den Wellen anzuvertrauen in der Hoffnung, sie in anderen Erdteilen wiederzufinden, am verrücktesten. Das wusste auch Neumayer: "Man bedenke nur, welchen Gefahren ein solch zerbrechliches Fahrzeug ausgesetzt ist, wenn es auf den durch Stürme gepeitschten Wogen einher treibt." Doch allen Hindernissen zum Trotz setzte Neumayer seine Experimente durch und begründete so die maritime Strömungsforschung. Damit veränderte sich für seine Zeitgenossen auch der Blick auf das Meer selbst. Vom reinen "Transitraum, auf dem Schiffe zwischen den Kontinenten verkehren", wurde es dank der Beschäftigung mit Winden und Strömungen ein "Raum nicht einer aktuellen, sondern aller möglichen Passagen", so Struck.

An der Hamburger Seewarte wurden von Neumayer und seinen Nachfolgern ganze Alben mit gefundenen Nachrichten gefüllt. Immerhin 662 von geschätzt 6000 Flaschenposten, die Kapitäne, Seeleute und Passagiere im Laufe der Zeit systematisch ins Meer warfen, wurden wiederentdeckt. Struck setzt das Projekt in den Kontext der Fortschrittsbegeisterung der Zeit. Entstanden ist so ein sorgfältig gestaltetes Buch samt farbiger Abbildungen von Originaldokumenten. In den Worten des Autors: "Eine aus Flaschenposten konstruierte Geschichte ist eine Geschichte der Fragmente, der Anekdoten, der Momentaufnahmen, der kleinen Szenen".

Ein Sammelsurium skurriler Geschichtchen bedeutet das aber nicht. Dokumente werden detailliert beschrieben, wissenschaftliche Überlegungen analysiert. Auch der enorme Reichtum an Zitaten zeigt, wie intensiv sich Struck durch die Archive gearbeitet hat. Er schaut dabei über Neumayers Zeit hinaus bis zurück in die Antike. Die Exkurse reichen bis zum griechischen Philosophen Theophrastos oder dem Weltensegler Kolumbus, der einst offenbar in Seenot wichtigste Nachrichten einem Fass anvertraute, das jedoch bis heute unaufgefunden bleibt.

Flaschenposten dienten als wissenschaftliches Instrument ebenso wie auch als (letzte) Nachrichten von Schiffbrüchigen und Ertrinkenden. Struck taucht nicht zuletzt in die Literaturgeschichte ein, zu Werken von Charles Dickens, Wilkie Collins und Hans Christian Andersen, und zitiert Joachim Ringelnatz' berührendes Gedicht "Flaschenpost", in dem spielende Kinder an einem Strand eine solche Nachricht mit Steinwürfen versenken: "Wie strahlt vor Freude das Kindergesicht, / Als endlich das gläserne Schiff zerbricht/ Und jäh im Wasser versinket. -/ Das Meer birgt schweigend am Grunde/ Voll Mitleid die traurige Kunde." Die tragische Pointe: Es handelt sich dabei womöglich um die letzte Nachricht des eigenen Vaters.

Struck schließt auch Ebenen mit ein, die lange keinen Platz in der Wissenschaftsgeschichte hatten. Wie etwa den rassistischen Ton, in dem dokumentiert wurde, wenn eine Flaschenpost von Nicht-Weißen aufgelesen wurde. Es handelt sich hier also um kein europäisches Heldenepos, es entsteht vielmehr ein kritisches Bild von Ideenreichtum und Experimentiergeist im Kontext von Imperialismus und Kolonialismus.

Das Buch verlangt einiges an Konzentration, um sich nicht in der Flut von Namen, Orten und historischen Verwicklungen zu verlieren. Doch wer sich auf seine verschlungene und detailversessene Geschichte einlässt, beendet die Lektüre mit viel neu gewonnenem Wissen über die Forschung in analoger Vorzeit. Und mit wiedererwecktem Respekt vor der Weite der Ozeane, die schließlich in vieler Hinsicht bis heute undurchschaubar bleiben.

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