200. Geburtstag von Fjodor Michailowitsch Dostojewski:Im Augenblick unsterblich

Fyodor Mikhailovich Dostoyevsky (Dostoevsky) - Russian novelist, short story writer, essayist, journalist and philosoph

Fjodor Michailowitsch Dostojewski 1861 in Moskau. Am 11. November 1821 ist er dort geboren.

(Foto: imago images/United Archives Int)

Eine neue Idee vom ewigen Leben, in der schon die Freiheit der Existenzialisten angelegt ist: Fjodor Dostojewski und seine Nachfahren in der Moderne.

Gastbeitrag von Deniz Utlu

"Ihr Lebtag haben sie einander nicht gekannt und wenn sie das Restaurant verlassen, werden sie weitere vier Jahrzehnte nichts voneinander hören, aber was tut's, wovon werden sie reden, in diesen flüchtigen Minuten im Restaurant? Von den Weltfragen, von nichts anderem: von Gott und Unsterblichkeit. Und die, die nicht an Gott glauben? Nun, die reden von Sozialismus und Anarchismus, von der Veränderung der ganzen Menschheit zu einer neuen Ordnung, und das läuft aufs selbe hinaus, es sind die selben Fragen, nur vom anderen Ende her."

Diese Gedanken äußert in Fjodor Michailowitsch Dostojewskis letztem Roman, "Die Brüder Karamasow", Iwan gegenüber seinem kleinen Bruder Aljoscha in einer Abschiedsszene, die zugleich eine erste Begegnung der Brüder ist. Iwan steht kurz vor seiner Abreise, er möchte nach Europa, wo "Teure Tote ruhen", ganz Europa sei nur mehr ein Friedhof, wenn auch der "aller-allerteuerste". Vielleicht tritt er diesen Weg an, weil das Postulat europäischer Aufklärer, man solle sich seines eigenen Verstandes bedienen, kaum das christliche Versprechen des ewigen Lebens ersetzen konnte. Nicht einmal für einen am europäischen Denken orientierten, jungen Intellektuellen: "Ich will leben", sagt Iwan, "und sei es gegen die Logik."

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Deniz Utlus jüngster Roman "Gegen Morgen" erschien 2019 bei Suhrkamp. 2021 wurde er mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet.

In jeder Zeile Dostojewskis, in allen Romanen und Erzählungen steckt dieser Lebensdurst, die Suche nach einer Möglichkeit zu leben, entgegen den Demütigungen und Zumutungen der Zeit und der Sterblichkeit. Ob es das ewige Leben gibt oder nicht, ist nicht allein eine religiöse Frage, es wird auch eine soziale und letztlich sogar juristische. Wenn durch den Aufbruch in die Moderne unwiderruflich der Zweifel an Gottes Existenz oder wenigstens an einem Leben nach dem Tod in die Welt gekommen ist: Lässt sich die Sterblichkeit dann noch überwinden?

Dostojewskis Ziel: den Widerspruch von Vergänglichkeit und Ewigkeit aufzuheben

Der kleine Aljoscha ist besorgt, dass den Brüdern nur so wenig Zeit bleibt für ihre Begegnung, nur eine Fischsuppe lang, dass jeden Moment schon das Kennenlernen, die ganze, eben entdeckte Brüderlichkeit vorbei ist. Iwan entgegnet der Angst seines Bruders gelassen: "Aber warum bist Du so besorgt, dass ich abreise? Wir haben doch noch Gott weiß wieviel Zeit bis dahin. Eine ganze Ewigkeit an Zeit. Eine Unsterblichkeit." Das Paradox, der zeitliche Widerspruch, in diesem Satz ist mehr als ein Effekt. In ihm ist die Autorität eines ganzen, sich über die Jahrzehnte vertiefenden, schriftstellerischen Anliegens angelegt. Nämlich die Hinüberrettung des ewigen Lebens in die Moderne.

Dieses Vorhaben ist es, das Albert Camus später auch in der Entwicklung seines Begriffs des Absurden beeinflusst. In seiner Dramatisierung von Dostojewskis "Böse Geister" bringt Camus das Anliegen auf den Punkt: "Stawrogin: Sie glauben an das ewige Leben in der anderen Welt? - Kirillow: Nein, aber an das ewige Leben in dieser." Wenn es bei Goethe im "Faust" noch heißt: "Werde ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön / Dann magst Du mich in Fesseln schlagen. / Dann will ich zugrunde gehen!", ist es bei Dostojewski, dessen "Brüder Karamasow" an einigen Stellen ziemlich direkt auf den "Faust" anspielt, das Ziel, den Widerspruch von Vergänglichkeit und Ewigkeit aufzuheben.

Erzählerisch gelingt ihm das in der Restaurantszene. In der Stunde, in der Iwan und Aljoscha Abschied nehmen, erzählen sie sich - zeigen sie sich - das Wesentliche. So ist es Iwan Karamasow, der hier seinem Bruder die berühmte Geschichte vom Großinquisitor erzählt. Jene Erzählung, in der Jesus zurückkehrt unter die Menschen und vom Großinquisitor eingesperrt wird, weil die Freiheit, die Jesus den Menschen anbiete, eine zu große Qual für diese sei. Die Intensität des Austausches ist genau das, was Camus im "Mythos des Sisyphos" als absurden Umgang mit einem Leben ohne Sinn vorschlägt: In Anbetracht der Sterblichkeit gilt es durch Erfahrung die Momente zu intensivieren.

Dostojewskis Wendung dafür ist "das lebendige Leben". Die Ewigkeit im Jetzt bedeutet Lebendigkeit oder nur mit irdischer Ewigkeit wird das Leben lebendig. Die Suche nach dem "lebendigen Leben" ist nicht nur für Camus und, über die daraus entstehende Verantwortung der Menschen füreinander und für ihre Freiheit, für Sartre inspirierend gewesen, sondern auch für viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller. So auch für James Baldwin, der in seinem Essay "Nach der Flut das Feuer" die Machtneigung in der Gesellschaft verbindet mit einer fehlenden Erkenntnis über die eigene Sterblichkeit. "Das Leben mehr lieben als seinen Sinn?", fragt Iwan seinen Bruder noch. "Ja, unbedingt", antwortet der.

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