"Five Easy Pieces" in Berlin:Fall Dutroux auf der Bühne - ein kaum zu ertragender Theaterabend

Milo Rau: Five easy pieces

Milo Rau gelingt es, weder Dutroux' Opfern noch den schauspielernden Kindern ihre Würde zu nehmen.

(Foto: Phile Deprez)

Milo Rau zeigt in Berlin die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux mit Kinder-Schauspielern. "Five Easy Pieces" ist seine beste Arbeit.

Theaterkritik von Peter Laudenbach

Das achtjährige Mädchen sitzt in einem Keller und spricht einen Brief an ihre Eltern in die Videokamera: "Bitte denkt an mich, wenn Ihr Süßigkeiten esst." Sie ist allein im Keller, sie weiß nicht, ob sie ihre Eltern wiedersehen wird, es ist dunkel, und sie hat Angst. Schlimmer als im Keller ist es "oben", in einen großen Schlafzimmer, wo sie tun muss, was ihr Entführer von ihr verlangt. Zum Beispiel sagen, dass sie Sex "toll" findet.

Milo Rau hat die Verbrechen des belgischen Kindervergewaltigers und Mörders Marc Dutroux zum Thema eines kaum erträglichen Theaterabends gemacht. Nach der Uraufführung beim Kunsten Festival in Brüssel ist die Inszenierung mit dem sarkastischen Titel "Five Easy Pieces" jetzt in den Berliner Sophiensaelen zu sehen. In der kommenden Spielzeit wird sie unter anderem an den Münchner Kammerspielen gastieren.

Kaum erträglich ist Milo Raus Inszenierung nicht nur, weil sie die Taten Dutroux' in fünf lakonischen Szenen schlaglichtartig beleuchtet, sondern weil sieben belgische Kinder zwischen acht und dreizehn Jahren alle Figuren spielen: Dutroux' alten Vater, der nicht versteht, was er bei seinem Sohn falsch gemacht hat. Den ermittelnden Polizisten, der die Fundorte der Frauen- und Kinderleichen zeigt und, sozusagen als Reenactment, den Mörder bei einer Tatortbegehung demonstrieren lässt, wie er eines seiner Opfer lebendig begraben hat. Trauernde Hinterbliebene bei der Bestattung eines der von Dutroux ermordeten Kinder. Oder zwei verzweifelte Eltern, die nicht schlafen können. Sie wissen nicht, ob ihr Kind noch lebt, sie warten seit Tagen, Wochen, Monaten voller Schrecken auf einen Anruf der Polizei.

Diese geradezu minimalistisch reduziert inszenierte Szene, in der nichts geschieht, als dass ein Junge und ein Mädchen auf einem Sofa vor einer Kamera sitzen und konzentriert ihren Text sprechen, ist unter anderem wegen des mehrfachen Perspektivwechsels gleichzeitig atemberaubend, analytisch klar und grauenvoll: Kinder spielen Erwachsene, die Angst um ihr Kind haben, während die Theaterzuschauer in der Szene davor gesehen haben, was diesem und anderen Kindern in Dutroux Kellern geschehen ist.

Milo Rau untersucht in jeder seiner Inszenierungen monströse Gewaltverbrechen

Der Dokumentar- und Reenactment-Regisseur Milo Rau untersucht in jeder seiner Inszenierungen monströse Gewaltverbrechen. Und er macht die drohende Obszönität und Unangemessenheit dessen, etwa den Bürgerkrieg im Kongo, den Völkermord an den Tutsi oder die fragwürdigen Geschäftsmodelle westlicher NGOs in afrikanischen Krisengebieten mit einem Theaterabend darstellen zu wollen, in seinen hoch reflektierten Arbeiten immer wieder sehr deutlich zum Thema. Diese Selbstinfragestellung, das raffinierte Spiel mit Meta-Ebenen und die Kritik des verwendeten Mediums Theaters im Medium Theater selbst, kann leicht etwas eitel selbstbezüglich und wie der Versuch wirken, die einzig angemessene, die einzig nicht naive Sprecherposition zu behaupten.

"Das haben wir doch geprobt"

In den "Five Easy Pieces" macht das die Darstellung der Verbrechen bei Vermeidung der Fallen der Gewaltpornografie erst möglich. Anders als in schwächeren Arbeiten, etwa der Berliner Station seines "Kongo Tribunals", vertraut Rau dabei den Möglichkeiten des Reflexionsmediums Theater ohne es etwas lautsprecherisch in politischen Aktivismus auflösen zu wollen. Auch deshalb ist "Five Easy Pieces" wahrscheinlich seine beste Arbeit seit "Hate Radio", der Inszenierung, die ihn vor fünf Jahren bekannt gemacht hat.

Den Rahmen der fünf Dutroux-Szenen bildet eine Theaterprobe. Peter Seynaeve, der einzige Erwachsene auf der Bühne, spielt den Regisseur, der mit den beeindruckend souveränen Kindern (Rachel Dedain, Maurice Leerman, Pipijn Loobuyck, Willem Loobuyck, Polly Persyn, Ele Liza Tayou,Winne Vanacker) an den Szenen arbeitet. Wir sehen der Fabrikation der Dokumentar-Fiktion zu, etwa wenn die Gesichter der Kinder in Großaufnahme auf der Leinwand zu sehen sind, oder wenn sie nachspielen, was im Film Erwachsene vormachen. Oder wenn der Regisseur in der Szene der verzweifelten Eltern etwas genervt und alles andere als feinfühlig verlangt, dass der Junge in der Rolle des Vaters gefälligst für die Schlusseinstellung in die Kamera weinen soll.

Natürlich stockt einem der Atem, wenn der Regisseur die zögernde Achtjährige auffordert, für die Keller-Szene ihr Hemd auszuziehen ("das haben wir doch geprobt"), als würde das Theater die Entwürdigung der Kinder wiederholen. Möglich ist das nur, weil die jungen Schauspieler der mit dem Kindertheaterzentrum Campo Gent koproduzierten Inszenierung nach fünf Monaten Probenzeit durch ihre Souveränität und Spiel-Formbeherrschung geschützt sind.

Die Dutroux-Opfer behalten ihre Würde

Der stärkste und irritierend gespenstische Verfremdungseffekt besteht natürlich darin, dass diese Kinder Erwachsene spielen und immer wieder mit großer Leichtigkeit zwischen Probensituation und wechselnden Rollen-Figuren wechseln. Weil das handwerklich so genau und komplett kitschfrei gearbeitet ist, entkommt Rau den Sentimentalitätseffekten, für die Kinder auf der Bühne gerne benutzt werden - und die bei diesem Stoff einem subtilen Missbrauch der Kinder im Dienste des Schreckens-Voyeurismus nahe gekommen wären. Erst die Genauigkeit und Klarheit der szenischen Form ermöglicht die mehrfache Brechungen und Verfremdungseffekte.

Diese Brechungen erlauben den gerade in ihrer Nüchternheit verstörend eindringlichen Umgang mit dem Stoff ohne Dutroux' Opfern ihre Würde zu nehmen. Dazu gehört auch, dass Rau auf Verschwörungstheorien, etwa eines pädophilen Netzwerks der belgischen Machteliten, oder trivialpsychologische Erklärungsversuche der Täter-Motive verzichtet. Jede simplifizierende Erklärung würde die Verbrechen banalisieren.

Die Inszenierung ist der seltene Fall eines Theaterabends, der auf angemessene Weise wehtut und dabei etwas leistet, was man früher Katharsis nannte: Trauerarbeit.

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