Brexit:Zwischen Irrationalität, Vermessenheit und Paranoia

Brexit: In der BBC-Serie „SS-GB“ hat das Dritte Reich die Luftschlacht gewonnen, London ist besetzt. Warum sind solche Fantasien derzeit so populär?

In der BBC-Serie „SS-GB“ hat das Dritte Reich die Luftschlacht gewonnen, London ist besetzt. Warum sind solche Fantasien derzeit so populär?

(Foto: BBC)
  • Fintan O'Toole analysiert in seinem Buch "Heroic Failure; Brexit and the Politics of Pain " (Heroisches Versagen; Brexit und die Politik des Schmerzes) die Ursachen des Brexits.
  • Seine These im Kern: Der wichtigste Charakterzug der Briten ist Selbstmitleid, das aus zwei Anteilen besteht - einem tiefen Gefühl von Verlust und dem Gefühl von Überlegenheit.
  • Das Buch des irischen Autors ist ein großer Spaß und ungeheuer aufschlussreich.

Von Cathrin Kahlweit, London

Es gibt diesen legendären Satz in dem Film "Italian Job", in dem eine kleine Gruppe mäßig begabter Gangster Goldbarren im Wert von 35 Millionen Dollar erbeutet, die ihnen dann entwendet werden. Auf der Jagd nach dem gestohlenen Diebesgut geht ein Kleinbus in Flammen auf, und der Gangsterboss brüllt ein Bandenmitglied an: "You're only supposed to blow the bloody door off!" (Mann, du solltest nur die verdammte Tür absprengen!")

Diese kurze Szene benutzt der bekannte irische Autor und Politik-Journalist Fintan O'Toole, der unter anderem Literatur in Princeton lehrt, um das ganze Drama des Brexit zu beschreiben. Da wollte eine Gruppe mäßig begabter Hochstapler eine irre Idee verkaufen, an die sie selbst nicht glaubte, und zum Schluss geht das ganze Land in Flammen auf. Dabei wollten sie doch nur die Eingangstür absprengen.

Der Brexit sei in dem Moment tot gewesen, sagt O'Toole im Gespräch mit der SZ, als das Referendum gewonnen war, und seine Erfinder seien selbst am meisten erschrocken gewesen über ihren Erfolg. "Alles, was vorher war, war Show. Aber wenn du gewinnst, musst du etwas tun. Du musst nach einer Revolution etwas verändern; den Bauern Land geben oder die Gefängnisse öffnen. Aber mit dem Brexit kann man nichts anfangen. Die Idee ist eine Fiktion."

O'Toole, der in Dublin und den USA lebt, hat zur Genese des Brexit und des Chaos, das derzeit im Vereinigten Königreich herrscht, ein Buch geschrieben: "Heroic Failure; Brexit and the Politics of Pain " (Heroisches Versagen; Brexit und die Politik des Schmerzes). Es gehört zum Besten, was man derzeit über Großbritannien, seine regierende Klasse, sein Selbstverständnis und seine Zerrissenheit lesen kann.

Das aktuelle politische Ringen um eine Lösung für das Unlösbare kommt bei ihm kaum vor; Theresa May hält er für eine widerstrebende Remainerin, die im Moment nur noch das verkörpert, was den - in ihrem Falle seherischen - Titel seines Buches ausmacht: Heroismus im Untergang.

Der renommierte Kommentator der Irish Times fragt vielmehr nach den Ursachen des britischen Irrwegs, sucht nach Konstanten in der Zeit vom Beitritt zur Europäischen Union bis zum geplanten Austritt und findet Irrationalität, Vermessenheit, Paranoia. Er erlebt ein Land, in dem das Empire als Zombie überlebt, in dem Brüssel als Sündenbock den Kriegsgegner Nazi-Deutschland ersetzt hat. Und in dem das Gefühl dominiert, nicht zu bekommen, was man verdient.

Xenophobie, Hysterie, intellektuelle Schlüpfrigkeit

Seine These im Kern: Der wichtigste Charakterzug der Briten ist Selbstmitleid, das aus zwei Anteilen besteht - einem tiefen Gefühl von Verlust und dem Gefühl von Überlegenheit. Es gilt das Motto: "Wir verdienen es, geliebt zu werden. Aber wir werden gehasst, weil wir so ungeheuer großartig sind." Die Brexiteers, eine Truppe reaktionärer, verantwortungsloser Spieler, schreibt O'Toole, hätten dann aus Selbstliebe und Selbstmitleid eine toxische Mischung gebraut: Xenophobie, Hysterie, intellektuelle Schlüpfrigkeit und die Kunst der Verstellung.

Weil er Ire ist, schaut der Autor distanziert und kenntnisreich zugleich auf die Nachbarinsel. Weil er ein brillanter Denker ist, analysiert er messerscharf, warum die Idee vom Brexit - im Rückblick - unausweichlich war. Und weil er Literaturkritiker ist, erklärt er die britische Seele anhand literarischer und cineastischer Topoi. Das ist ein großer Spaß. Und ungeheuer aufschlussreich.

Er hat sich durch die Sadomaso-Bibel "50 Shades of Grey" gekämpft und Nazi-Krimis gelesen, er hat die Lyrik der britischen Boulevardpresse analysiert und Monty-Python-Filme zu Rate gezogen. Anhand von "Old Filth", dem Helden aus Jane Gardams großartiger Trilogie über einen Juristen, der dem britischen Imperium diente ("Ein untadeliger Mann"), erklärt er die Sehnsucht nach vergangener Größe. Und auch Boris Johnson, kommt vor, der es mitten im Brexit-Wahn noch schaffte, eine Biografie über Churchill zu schreiben.

O'Toole nimmt sich unter anderem "Fatherland" ("Vaterland") vor, den Bestseller von Robert Harris aus dem Jahr 1990. Er spielt, wie viele andere populäre britische Romane und Filme, mit der Idee, dass Hitler den Krieg gewonnen hat und die Insel unter dem Joch der deutschen Nazis fortexistiert. In der reaktionären, dystopischen Fantasie vieler Engländer, so O'Toole, sei die EU nur eine Fortschreibung des deutschen Wahns von der Unterwerfung des Kontinents: "Die EU hat, wenn man dieser Fantasie folgt, geschafft, was Hitler nicht geschafft hat."

"Fatherland" - oder auch die BBC-Serie "SS-GB", (unlängst auf Deutsch mit Lars Eidinger verfilmt) - sei, so O'Toole am Telefon, die Antwort auf das deprimierende Gefühl, als Siegermacht nach dem Krieg hinter die Besiegten zurückgefallen zu sein. Die ultimative Idee hinter dieser masochistischen Vorstellung laute: "Wir müssen weiterkämpfen, uns wehren." Gegen die Deutschen und gegen die EU, die von den Deutschen dominiert wird.

Dass der Film "The Darkest Hour" über den Kriegseintritt unter Winston Churchill, wie eine Reihe anderer Weltkriegsepen auch, in der Brexit-Ära auf die Leinwände kam, interpretiert O'Toole in diesem Sinne als Renaissance des Geists von Dünkirchen, des "Dunkirk-Spirit". Der Widerstand gegen die Deutschen lebt und wird belebt.

Die Deutschen wiederum werden in der Rhetorik britischer Nationalisten von der deutschen Autoindustrie regiert. Warum sonst, fragt O'Toole ironisch, würden die Brexiteers immer betonen, dass spätestens, wenn VW und BMW die Nase von den No-Deal-Drohungen voll hätten, Merkel der EU Bescheid stoßen werde - und diese den Briten dann gebe, was sie wollen, nein: was sie verdienen? Die Tories, folgert O'Toole gut gelaunt, seien die "letzten Marxisten" die noch an die Allmacht des Kapitals glaubten: Wenn ihre Interessen auf dem Spiel stünden, beschreibt er die feuchten Träume der Brexiteers, dann würden "die Vorstandschefs das Kanzleramt anrufen. 'Merkel', würden sie in den Hörer brüllen, 'es darf keine Zollgrenzen geben. Wir erlauben das nicht.'"

Und dann werde Merkel ihrerseits in der EU-Kommission anrufen und ins Telefon bellen: "Die Briten müssen ihren Kuchen haben und ihn gleichzeitig essen können." Juncker und Tusk brüllen zurück: "Jawohl!"

Und weil in dieser Szene schon Dominanz und Unterwerfung anklingen, nimmt sich O'Toole dann auch gleich noch "50 Shades of Grey" vor, den Bestseller der britischen Autorin E. L. James über eine sadomasochistische Beziehung, in der es ebenfalls um Macht und Unterwerfung geht. Der männliche Held, Christian Grey, ist in O'Tooles Analogie die dominante EU, Anastasia Steele das "unschuldige England", das sich in einem hyperbürokratischen Prozess samt strengem Regelwerk (was sie essen, wann sie essen, wann sie schlafen, wann sie sich wehren darf) ihrem Herrn und Meister hingibt.

Das Kapitel, in dem sich der Literaturprofessor aus Princeton mit den Fantasien von Millionen Leserinnen befasst, ist schreiend komisch und zugleich sehr logisch: "In den Fesselspielen, die in den Köpfen der Brexit-Ideologen stattfinden, hat Britannien 45 Jahre damit verbracht, von der Decke eines Folterzimmers zu hängen, mit Klammern an den Nippeln und einem Knebel im Mund."

Für O'Toole ist der Vergleich hochpolitisch: Wer lange ein ausgeprägtes Gefühl der eigenen Macht hatte, der habe umgekehrt auch ein ausgeprägtes Gefühl der eigenen Machtlosigkeit. "Wie es kommt, dass die Briten sich als gefangene, tyrannisierte Nation fühlen? Nun, der Mythos vom Opferstatus ist die Währung der Populisten geworden."

Der Brexit ist ein Desaster, weiß der Autor aus Irland, weil der Mythos der Unterdrückung in dem Moment nichts mehr nützt, in dem es - nach dem Austritt - keinen Unterdrücker mehr gibt. Er ist und war aber auch eine Katastrophe, weil er nie ein positives Narrativ hatte.

O'Toole lobt das Unabhängigkeitsreferendum der Schotten 2014: Die hätten vorher auf 900 Seiten aufgeschrieben, wie die Unabhängigkeit aussehen solle. 900 Seiten Klarheit und Prognose. Wenn er sich hingegen die scheinbar harmlosen, tatsächlich aber brandgefährlichen Exzentriker Jacob Rees-Mogg und Boris Johnson ansehe, die als Gesichter der Kampagne agiert hätten, dann sehe er nur Schauspieler. "Ich warte, nein ich hoffe immer darauf, dass sie eines Tages ihre Masken abnehmen, und dahinter kommen brillante Avantgardekünstler hervor, die sich das alles ausgedacht haben."

Zur SZ-Startseite
Michel Houellebecq

Antiliberales Denken
:Ein Nationalist? "Das bin ich auch, ganz genau das."

Michel Houellebecq lobt in einem gerade erschienenen Essay den Protektionismus und Nationalismus von Donald Trump. Wie ernst meint er das? Und ist das wichtig?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: