Bei einem Ahnherrn übersieht man leicht, dass auch er irgendwo herstammt. Das Universum, das J. R. R. Tolkien schuf, war von ungeheuer anregender Kraft für die Fantasy-Literatur, die heute in Blüte steht. Doch von wo kamen seine Inspirationen?
Hier hat das finnische Kalevala-Epos eine entscheidende Rolle gespielt. Finnland, im äußersten Nordosten Europas gelegen und bis ins zwanzigste Jahrhundert unter fremder Herrschaft erst Schwedens, dann Russlands, hat sich spät zum Christentum bekehrt und Spuren der alten heidnischen Überlieferung bis in Zeiten bewahrt, wo anderswo schon die Eisenbahn fuhr. In den 1830er-Jahren sammelte der Philologe Elias Lönnroth nach deutschem Vorbild die vielen balladenhaften Lieder, die mündlich umliefen, schrieb sie auf und komponierte daraus ein zusammenhängendes (obwohl nicht widerspruchsfreies) Ganzes. Er wurde dafür als Homer des Polarkreises und Stifter der finnischen Nation gefeiert.
"Wir nehmen Urlaub vom gesamten Fortschritt der letzten drei Jahrtausende"
Das romantische Bedürfnis nach echtem altem Volksgut war stark im 19. und frühen 20. Jahrhundert; und auch der junge John Ronald verspürte es. Schmerzlich empfand er, dass es in der englischen Sprache und Kultur keinen starken mythischen Fundus gab. Da entdeckte er das Kalevala. Er ließ seine bisherigen Studien sausen, fiel fast durch eine wichtige Prüfung, besorgte sich eine finnische Grammatik und grub sich auf eigene Faust in diese schwierige Sprache ein.
Und nicht genug damit, er begann es selber weiterzudichten: sein erstes literarisches Projekt. Man weiß nicht ganz genau, wann das war; es muss in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sein, in den er später als Soldat zog. 20 bis 22 Jahre zählte er damals. Nicht das ganze Epos nahm er sich vor, sondern allein eine der düstersten Episoden dieses insgesamt doch eher lichten Werks: die Geschichte von Kullervo.
Kullervo heißt "der Zorn", seine ihm symbiotisch verbundene Zwillingsschwester trägt den Namen Wanôna, "das Weinen"; damit ist die Stimmung gesetzt. Ihr Onkel (die vielen vielsilbigen Namen, für Tolkien immer von besonderer Faszinationskraft, seien hier übergangen) überfällt das elterliche Gehöft und tötet alle Bewohner außer der schwangeren Mutter, die er als Sklavin verschleppt; in der Gefangenschaft bringt sie das Zwillingspaar zur Welt. Kullervo, schon als Kleinkind von herkulischer Stärke, der ganze Wälder rodet, als wären es Strohhalme, entzieht sich dem Onkel, gegen den er tiefen Groll hegt, übt Rache auch an der bösen Ehefrau seines Dienstherrn, begeht in einem Zustand der Verblendung Inzest mit der Schwester und stürzt sich, verzweifelt darüber, in sein Schwert. So wenigstens hätte es enden sollen; denn wie so viele von Tolkiens Nebenwerken blieb auch dieses ein Fragment mit teils schwer nachzuvollziehender Entstehungsgeschichte.
Warum hatte es ihm gerade dieser wenig gefällige Stoff angetan? Die Herausgeberin Verlyn Flieger, die auch Einleitung und Nachwort verfasst hat, vermutet, Tolkien habe hier Parallelen zu seiner eigenen Biografie erblickt: Auch er wuchs als Waisenkind auf, auch er hatte, wenngleich keinen bösen Onkel, so doch einen autoritären Vormund, der die Verlobung mit Edith, Tolkiens späterer Ehefrau, zu unterbinden suchte; an ihrer Stelle könnte die Schwester stehen. Man weiß mit Bestimmtheit, dass Tolkien aus ähnlichen privaten Gründen später aus seinem schon fertigen Buch "Das Silmarilion" die Liebesgeschichte von Beren und Luthien herauszog, deren Namen er auch auf das eheliche Doppelgrabmal schreiben ließ.
Wie bei Beren und Luthien, wie bei seiner Version der Sage um König Artus erweist sich auch hier schon die sprachliche Gestalt und ihre historische Verortung als das zentrale Problem. Tolkien optiert für eine altertümliche, aber nicht archaische englische Prosa. Immer wieder streut er längere Verseinlagen ein, die sich mit ihren vierhebigen Trochäen um Annäherung an das Original bemühen.
Milchkühe heißen bei ihm "milch kine", und wenn die Figuren sich unterhalten, hört sich das so an: "Husband, lo, an ill reek ariseth yonder: come hither to me." Joachim Kalka übersetzt, angemessen, doch ein wenig dichter an der Gegenwartssprache: "Mein Gatte, sieh, dort steigt ein übler Dunst auf: Komm her zu mir." Manchmal gelingen Passagen von poetischer Qualität: "Meine Tränen fallen sommers, / Und sie fallen heiß im Winter, / Bis der Schnee um mich geschmolzen / Und die Erde kahl und tauend, / Ja, die Erde, sie begrünt sich, / Meine Träne rinnt im Grünen. / O mein Schöner, o mein Säugling, / Kullervoinen, Kullervoinen, / Sarihonto, Sohn des Kampa!" Wie man sieht, lässt sich dieses dichterische Muster relativ leicht erfüllen, hat seine Schönheiten, neigt aber auf längere Strecken zu einer gewissen Monotonie.
Tolkien hat das Kalevala heiß und innig geliebt. Zwei (sich inhaltlich überschneidende) Vorträge hat er, der das sonst eher selten tat, darüber vor einem akademischen Publikum gehalten. Darin rühmt er die Vorzüge dieser Dichtung, die zwar alt im Stoff, aber jung und frisch, da erst spät niedergeschrieben, ohne Patina sei und gewissermaßen unschuldig auf eine leere Leinwand aufgetragen. "Wir nehmen Urlaub vom gesamten Fortschritt der vergangenen drei Jahrtausende und wollen eine Weile höchst unhellenisch sein und barbarisch - wie der Knabe, der hoffte, im Jenseits würde es Urlaubstage in der Hölle geben, ohne Eton-Kragen und Choräle."
Man sieht J.R.R. Tolkien in diesem Buch, wie er aufbricht ins noch Ungewisse seines Werks
Eine größere Chance und mehr Geltung vermag er dieser wilden, klang- und wandlungsreichen Dichtung in der neuzeitlichen Welt nicht einzuräumen; und es erfüllt ihn mit Wehmut. Besonders sagen ihm zwei Dinge zu: dass auch die größten Rüpel, an denen es in diesem Werk nicht mangelt, die Frauen stets mit Respekt behandeln; und dass außer Menschen und Gottheiten auch Tiere und Gegenstände ihre deutlichen Persönlichkeiten haben und zu Wort kommen - "selbst das Bier redet gelegentlich". Zum Beweis zitiert er einen längeren Monolog dieses geschätzten Getränks, das sich empört und in seinem Eichenfass schimpft, weil man keinen besseren Spielmann gefunden habe.
Tolkiens Adaptation des Kalevala stellt einen merkwürdigen Zwitter dar. Als eigenständige Schöpfung wird man sie kaum betrachten können. Aber die Arbeit daran wies ihm die Richtung, die er künftig einschlagen sollte. Er verdankt ihr weit mehr als eine große Menge von Motiven (die freilich auch); sondern er ringt um die Form, in der eine Geschichte, die der grauen Vorzeit angehört, aktuell neu erfunden werden kann. Dazu bedarf es zunächst einer gut verbürgten alten Geschichte, die aber nicht den Status unveränderlicher Heiligkeit besitzt. An ihr darf, mit Lust und Qual, geübt werden.
Die sorgfältige Edition von Verlyn Flieger leuchtet einen wichtigen Teil des langen Weges aus, den Tolkien dabei zurückgelegt hat, und zwar den Anfang. Man sieht ihn hier gleichsam, wie er aus dem Auenland aufbricht ins noch Ungewisse.