Finnische Gegenwartsliteratur:Lass mir dein Haar

Sofi Oksanen erzählt in "Die Sache mit Norma" ein wildwucherndes Schauermärchen von internationaler Geschäftemacherei mit Frauenkörpern. Sie verdankt es ihrem Erzähltalent, dass sie nicht aus der Kurve fliegt.

Von Frauke Meyer-Gosau

Rihanna und Beyoncé tun es, Victoria Beckham ebenfalls: Am einen Tag sind ihre Haare modisch kurz geschnitten, am nächsten sind sie wieder üppig und lang, und dass dies so ist und trotzdem immer ganz natürlich ausschaut, haben sie Friseurinnen zu danken, die sich mit der Technik der Haarverlängerung auskennen: Sie verbinden das Haar ihrer Kundinnen, fürs ungeübte Auge unsichtbar, mit Haaren, die von anderen Frauen stammen - aus welchem Land, wollen die meisten Kundinnen gar nicht wissen. Wenn sie es sich leisten können, bestehen sie allerdings auf dem Typus "Remy", echtem Menschenhaar, das zumeist aus Indien kommt. Dessen Qualität ist die beste. Folglich wirken Extensions damit am natürlichsten.

Dies alles lernen wir nicht etwa aus einem Fachblatt des Friseurhandwerks, sondern aus dem neuen Roman der finnischen Autorin Sofi Oksanen. "Die Sache mit Norma" heißt er und trägt überdies noch allerhand Informationen über das Phänomen des extremen Haarwuchses, die Hypertrichose, zusammen. In ihrem 2012 auf Deutsch erschienenen Roman "Stalins Kühe" hatte Oksanen bereits detailgenau von weiblichen Ess-Störungen, deren Erscheinungsformen und Auswirkungen erzählt. Nun geht es also um Haare, genauer gesagt: um das weltweite kriminelle Geschäft mit Menschenhaar. Und da der erweiterte Fokus hier auf der Ausbeutung von Frauenkörpern liegt, verknüpft Oksanen das Haargeschäft mit den nicht minder kriminellen Machenschaften um die in den meisten Ländern verbotene kommerzielle Leihmutterschaft.

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Betrieben werden beide Geschäftszweige im Roman vom international agierenden Familienclan des Erzganoven Walter Lambert, der Frauen aus der Ukraine, aus Vietnam, Thailand und Mexiko an finnische Paare vermietet, die sich Kinder wünschen, selbst aber keine bekommen können. Den osteuropäischen Frauenmarkt hat Lamberts zweite Ehefrau Alla unter sich, seine erwachsenen Kinder Alvar und Marion sind mit der Anwerbung finanziell potenter Kunden betraut. Marion aber betreibt in Helsinki außerdem den Frisiersalon "Haarzauber" und hat es daher also auch mit dem globalen Haar-Schwarzmarkt zu tun. Nachdem nämlich vor allem in der westlichen Welt die Nachfrage nach dem besten Material für Extensions sprunghaft gestiegen ist, wird es zunehmend schwierig, die Kundinnen mit erstklassiger Ware zu versorgen - ganze Landstriche in Vietnam sind mit kurzhaarigen Frauen bevölkert, erzählt Oksanen: mit Frauen, die ihre Haare verkauft haben und nun warten, bis neue Ware auf ihren Köpfen nachgewachsen ist.

Richtig haarig wird es im Roman allerdings, wenn Mitarbeiterinnen des Clans aus der Reihe tanzen, indem sie das Unternehmen durch auffälliges Verhalten gefährden oder sich, wie die bei "Haarzauber" tätige Anita Ross, anschicken, die Gangster zu betrügen. Dann verschwinden sie von der Bildfläche, was wiederum Probleme mit den Hinterbliebenen verursachen kann, sodass aus einem kriminellen Akt leicht der nächste erwächst.

Ein Krimi ist "Die Sache mit Norma" also auf jeden Fall, doch soll es mit diesem Genre hier keineswegs sein Bewenden haben: Die Kriminal-Story verquickt sich mit einem einigermaßen vertrackten Familienroman, der wiederum um das Problem extremen Haarwuchses kreist. Denn in der Familie von Anita Ross hatte es nicht nur eine Urgroßmutter Eva gegeben, die eines Tages aus ihrem Dorf verschwand und als Postkartenikone mit gigantisch wallendem Haupthaar in den USA wieder auftauchte, wie Anita in komplizierten Recherchen ermittelt - Anitas eigene Tochter Norma ist von derselben widrig wuchernden Erscheinung befallen. Jeden Tag wächst ihr Haar um mehr als einen Meter, und wenn Norma Bedrohliches wahrnimmt, ringeln sich die Haare aggressiv und kriechen selbst unter dem festgezurrten Turban hervor, der den Haarwildwuchs verbergen sollte.

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Sofi Oksanen: Die Sache mit Norma. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 350 Seiten, 22 Euro.

Wobei Norma überdies auch noch hellfühlig ist, fremden Menschen auf den ersten Blick lebensgefährliche Krankheiten ansieht, aus dem Geruch von Haaren messerscharf erschließt, was für ein Leben deren Träger führen, was sie essen, ob sie Sex hatten oder aus irgendeinem Grund beunruhigt sind. Weiblichkeit und Hexentum gehen hier ineinander über.

Arme, geplagte Norma! Einen Arbeitsplatz nach dem anderen verliert sie, gegen ihre Dauerübelkeit muss sie Medikamente nehmen, mit starken Beruhigungsmitteln versucht sie sich einigermaßen auf seelischer Normaltemperatur zu halten und nimmt zudem Zuflucht zu alkoholischen Getränken. Einzig ihre Mutter, die auf Normas Ernährung achtet und sie mit Nahrungsergänzungsmitteln füttert (was wiederum mit der Qualitätssteigerung ihrer Haare zu tun hat), gibt ihr Halt.

Wenn die Heldin Bedrohliches wahrnimmt, kringelt ihr Schopf unter dem Turban heraus

Doch dann springt Anita, die zuletzt doch so heiter und optimistisch gestimmt war, am Morgen nach einer Thailand-Reise vor die U-Bahn - Norma durchstöbert ihre Recherchen und Aufzeichnungen und findet heraus, dass der Lambert-Clan seine Hände im Spiel hatte. Schritt für Schritt deckt sie nicht nur ihre eigene Familiengeschichte sowie die Geschichte von Anitas angeblich verrückt gewordener bester Freundin Helena auf (die wiederum die erste Ehefrau des Gangsters Lambert war, Mutter von Alvar und Marion). Sie stößt auch noch darauf, dass Anita Normas Haare als angeblich ukrainisches Extension-Material in "Virgin Remy"-Qualität an "Haarzauber" verkauft und sich so für die Lamberts unentbehrlich gemacht hat. Bis sie sich zusammen mit Marion hinter dem Rücken des Clans auf eigene Großverdienerfüße zu stellen versuchte und vor die U-Bahn fiel.

Wer noch nichts von Elizabeth Siddal, dem durch ultralang und üppig herabfließendes kupferrotes Haar hervorstechenden Lieblingsmodell der Präraffaeliten gehört hat, kann hier alles über sie, ihren extremen Haarwuchs, ihr tragisches Ende und das legendäre Weiterwachsen ihrer Haare noch im Sarg erfahren - ein Stück Schauerromantik, das Sofi Oksanen bis in die Gegenwart hinein fortschreibt: Elizabeth Siddal nämlich "war eine wie Norma gewesen", verdammt zu einem Dasein zwischen Freak und Muse, genauso wie Normas Urgroßmutter.

Haare und vermietete Gebärmütter, Mord und Totschlag allerorten und schließlich Normas Liebe zu Alvar, der sich als neuer Obergangster etabliert: Einigermaßen haarsträubend ist das alles. Und doch liest man es, kopfschüttelnd und doch auf die nächste schockierende Wendung gespannt, mühelos bis zum Ende. Das liegt zweifellos an der entspannten Übersetzung von Stefan Moster. Ebenso aber daran, dass Sofi Oksanen selbst einen komplett abgedrehten Stoff mit Grusel-Extensions aller Art gut erzählen kann.

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