Süddeutsche Zeitung

Neu in Kino & Streaming:Welche Filme sich lohnen - und welche nicht

Michael Bully Herbig hat mit "Tausend Zeilen" den "Spiegel"-Skandal um Claas Relotius adaptiert, und Netflix will mit einer Neuverfilmung von "Im Westen nichts Neues" den Oscar holen: die Starts der Woche in Kürze.

Von den SZ-Kritikern

Der Bauer und der Bobo

Fritz Göttler: Christian Bachler ist der Bauer, er hat den höchsten Berghof in der Steiermark, Florian Klenk, Chefredakteur der aufmüpfigen Wochenzeitschrift Falter, ist der Bobo, einer der Intellektuellen, die durchaus wohlmeinend sind, aber ein wenig besserwisserisch, weil sie die Umstände einfach nicht genau genug kennen. Um dem abzuhelfen in Sachen Landwirtschaft und Ernährungswissenschaft, Naturliebe und Klimawandel und der Produktion von Zirbenschnaps, wird Klenk zu einem Praktikum eingeladen auf den Bachler-Hof. Kurt Langbein filmt diese Männertage auf sonnigen Hängen, Bachler erzählt von Yaks, die besser als Kühe in diese Region passen, Klenk startet eine Internetaktion zur Rettung des Hofes. Bachler ist ein eloquenter "Ackerdemiker mit Niveau", so steht es auf seinem T-Shirt, und einmal vergleicht er die Situation der Bauern heute mit den Menschen im Film "Matrix". Am Ende traut er sich auch ins Gegenpraktikum, in die Redaktion des Falter in Wien.

Blonde

Fritz Göttler: Die Geschichte des Mädchens Norma Jeane, die als Marilyn Monroe weltberühmt wurde und von der gnadenlosen Produktionsmaschine Hollywood kaputtgemacht wird ... Am Ende liegt sie tot da, nach einer Überdosis Schlafmittel. Andrew Dominik hat viele Jahre gebraucht, um den dicken Roman von Joyce Carol Oates in einen Film (für Netflix) umzubauen. Ana de Armas verkörpert Marilyn, das Opfer, die Dostojewski liest und gern Tschechow spielen würde, die eigentümliche Unschuld geht ihr ab, mit der Marilyn auch grobe Rollen fast filigran macht. Präsident Kennedy kommt ganz schlecht weg, man schleift sie durch Hotelgänge zu einem Date mit ihm wie ein Stück Fleisch. Adrien Brody ist wunderbar als Arthur Miller, der intellektuelle Autor, der sich zärtlich verliebt, sie heiratet, aber doch nicht retten kann.

Da kommt noch was

Anna Steinbauer: Ein sensationeller Sturz in den Heizungsschacht des eigenen Wohnzimmers lässt die 62-jährige Helga aus ihrer bourgeoisen Langeweile auftauchen, die davon geprägt ist, mit den gehässigen Freundinnen Karten zu spielen und sich über ihren untreuen Ex-Mann zu ärgern. Denn Helga verliebt sich ausgerechnet in ihre neue Putzkraft, den Polen Ryszard. Subtil und mit viel Gefühl fürs richtige Timing entlarvt die Regisseurin Mareille Klein in ihrer Tragikomödie rassistische Haltungen und Vorurteile der gutsituierten Gesellschaft. Die pointierten, witzigen Dialoge und die so ungeschickten wie sympathischen Figuren (brillant: der polnische Starschauspieler Zbigniew Zamachowski) erinnern an Maren Ades Filmkosmos. Noch nie wurde der Sound einer Kaffeemaschine zermürbender inszeniert.

Im Westen nichts Neues

David Steinitz: Die erste deutsche Verfilmung von Erich Maria Remarques Roman aus dem Jahr 1929 geht für Deutschland ins Rennen um den Oscar als bester internationaler Film. Edward Berger hat die Geschichte des jungen Soldaten Paul in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs um eine zweite Ebene erweitert. Er erzählt neben der Euphorie des Kriegsanfangs und dem Horror des Kriegsalltags auch von den zähen Verhandlungen um einen Waffenstillstand und baut seinen Kriegsfilm zum Thriller fürs Netflix-Zeitalter aus.

Mutter

Johanna Adorján: Der Film von Carolin Schmitz basiert auf Interviews, die die Regisseurin mit Müttern gemacht hat, die ihr sehr offen von ihren Erfahrungen, gerade den schwierigen, erzählten. Diese Tonaufnahmen sind im Film zu hören, doch anstelle der acht Frauen ist immer Anke Engelke zu sehen. Während sie alltäglichen Dingen nachgeht, spricht sie die Aussagen der Mütter lippensynchron mit, und zwar so perfekt, dass es wirkt, als wäre sie es, die jeweils redet. Durch diese künstliche Entfremdung entsteht etwas aufregend Neues, das man so noch nie gesehen hat und in dieser Schonungslosigkeit wohl auch nur selten hört. Und Anke Engelkes Schauspielkunst haut einen um.

Rex Gildo - Der letzte Tanz

Josef Grübl: Wie ein Klagechor aus der griechischen Antike treten sie auf, die ganz in Schwarz gekleideten Frauen, die ihr Idol nicht im Bett mit seinem Manager sehen wollen. Doch Rex Gildo liebte Männer, daran lässt Rosa von Praunheim in diesem Dokudrama keinen Zweifel. Es geht ihm aber nicht um eine weitere Outing-Kampagne, sondern um die Verlogenheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in der Schlagerstars dauerhaft zu lächeln hatten, nicht schwul sein oder altern durften. Das ist eigentlich nichts Neues, gleichzeitig fragt man sich: Hat sich daran je etwas geändert?

Tausend Zeilen

Susan Vahabzadeh: Als Schlüsselgeschichte kann man Michael Bully Herbigs Komödie nicht bezeichnen, dafür braucht man keinen Decoder: Elyas M'Barek spielt einen Journalisten namens Romero, der einen Kollegen, der Bogenius heißt, bei einem Chronik genannten Magazin der erfundenen Reportagen überführt. Das ist der Relotius-Skandal von 2018, sehr ordentlich als Komödie aufbereitet. Vielleicht manchmal ein bisschen zu ordentlich - die Wirklichkeit war in diesem Fall wüst genug für etwas mehr filmische Verrücktheit. Was Herbig nicht getan hat: Er hat nicht an den Motiven und Macken des Vorbilds Claas Relotius herumanalysiert. So ist er nicht in die Falle hineingetappt, eine dramatische, zu Herzen gehende Entschuldigung zu konstruieren, die vielleicht nicht einmal zutrifft - Applaus dafür.

Weinprobe für Anfänger

Philipp Stadelmaier: Weinselige Romanze zwischen einer einsamen Krankenschwester (Isabelle Carré) und einem herzkranken Weinhändler (Bernard Campan), dessen plausibler Nachfolger in Ivan Calbéracs Adaption eines Boulevardtheaterstücks ausgerechnet ein kiffender Praktikant mit arabischen Wurzeln und feiner Nase für Médoc ist. Parbleu! Schmeckt bei allen önologischen Gaumenfreuden nach umgekipptem Schankwein. Dann doch lieber selber einen guten Médoc aufmachen.

Wir könnten genauso gut tot sein

Philipp Bovermann: Hinter dem Zaun der augenscheinlich stinknormalen Wohnanlage lauern schrecklichste Gefahren. Sehen kann man sie nicht. Existieren sie überhaupt? Bewerber auf frei werdende Wohnungen fallen jedenfalls bettelnd auf die Knie oder versuchen es mit Bestechung. Wer einmal drin ist, darf sich auch nicht sicher fühlen, der Hausrat kann einen ruckzuck wieder ausschließen, wenn man nicht hinreichend als vertrauenswürdiger Nachbar performt - Paranoia geht um, die Schrecken da draußen kriechen in die Hausgemeinschaft. Die filmische Allegorie auf gesellschaftliche Ausschlussmechanismen von Natalia Sinelnikova folgt einem erwartbaren Pfad, mit bewaffneten Bewohnermilizen und Standgerichten, ohne eine zweite Ebene hinter dem Ideentheater zu entwickeln.

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