Süddeutsche Zeitung

Neu in Kino & Streaming:Welche Filme sich lohnen - und welche nicht

Oscarpreisträger Guillermo del Toro zeigt einen unheimlichen Jahrmarktspuk in "Nightmare Alley". Catherine Deneuve spielt in "In Liebe lassen" eine Mutter, die sich von ihrem todkranken Sohn verabschieden muss. Die Starts der Woche in Kürze.

Von den SZ-Kritikern

Charlatan

Annett Scheffel: Mit einer Faszination für Machtgefüge widmet sich Agnieszka Holland nach "Red Secrets" (2019) erneut der Biografie eines Mannes, der unter die Räder der stalinistischen Diktatur kommt. Für ihre semifiktionale Parabel über den Glaubenskampf totalitärer Regime hat sie sich eine schillernde und zutiefst widersprüchliche Figur ausgesucht: den tschechischen Naturkundler Jan Mikolášek, der in der Zwischenkriegszeit zum Wunderheiler aufsteigt, hochrangige Nazis und Kommunisten behandelt und später ins Visier der Staatssicherheit gerät. Woran man glauben soll - an Wunder, Gott, die Kraft der Natur, Liebe oder Staat -, ist hier keine Frage der Überzeugung mehr, sondern des Überlebens.

Effigie - Das Gift und die Stadt

Fritz Göttler: Ich kann mit Lust Böses tun, sagt die berüchtigte Gesche Gottfried, auch bekannt als der Engel von Bremen. Um sie herum häufen sich Todesfälle, in denen Mäusebutter verabreicht wird, ein mit Arsen versetztes Schmalz zur Bekämpfung der Nager. Der Senator Droste ermittelt, unterstützt - und manchmal genervt - von seiner Protokollantin Cato Böhmer. Eine Frau im Kriminalgericht?! Es ist das Jahr 1828, die Gesellschaft und ihre Ideologie öffnet sich, auch für die Erklärung abnormen Verhaltens, vor allem durch neue Ideen aus Frankreich. Suzan Anbeh und Elisa Thiemann sind ein schillerndes Paar Gesche/Cato im ersten Film von Udo Flohr, der selbst auf den großen Kollegen verweist, der sich Gesche bereits gewidmet hat, Fassbinder und "Bremer Freiheit". Flohrs Panorama vom Beginn des 19. Jahrhunderts ist angenehm zerstreut, weil es gern den Blick von der Giftmischerin - 15 Morde - wegzieht, hin auf die Bemühungen Bremens um Anschluss an die Welt und ihre Geschäfte, Eisenbahn und Güterhafen. Einmal regnet es, bei einer Exhumierung, Blut.

An Impossible Project

Martina Knoben: Nach zwei Jahren Pandemie klingt Digital Detox nicht mehr nach Verzicht, sondern wie ein uneingelöstes Versprechen. Einer, der den Charme des Analogen immer schon verspürt hat, ist Florian Kaps, den Jens Meurer in seiner Doku porträtiert. Kaps hatte 2008 das letzte Polaroid-Werk gerettet, er liebt und sammelt Vinyl und viele andere "altmodische" Dinge zum Anfassen. Der Film erzählt die Erfolgsstory der wiederentdeckten Instant-Fotografie und ist darüber hinaus eine Hymne ans Analoge. Das wird im Film allerdings so zeitgeistig hip präsentiert - alles ein kuratierter Event -, dass ein Streamingabend fast wie das authentischere Erlebnis wirkt.

In Liebe lassen

Anke Sterneborg: Ein Film über das qualvolle und unausweichliche Sterben eines knapp vierzigjährigen Schauspiellehrers (Benoît Magimel) an Bauchspeicheldrüsenkrebs, über den Abschied einer Mutter von ihrem Sohn, eines Menschen vom Leben. Emmanuelle Bercot erzählt dieses Drama so unaufgeregt und wahrhaftig, wie sie als Regisseurin auch an die anderen Dinge des Lebens herangeht. Entzündet hat sich die Idee zu ihrem zweiten Film mit Catherine Deneuve an der Begegnung mit einem Onkologen, der den einfühlsamen und charismatischen Arzt nun auch im Film verkörpert. So wie der Schauspieler mit seinen Schülern arbeitet, tut es im Grunde auch der Arzt mit seinem Team und den Patienten. Für beide geht es darum, den großen Abschied würdevoll zu bewältigen.

Eine Nacht in Helsinki

Sofia Glasl: Wer könnte charmanter über den Lockdown-Trübsinn philosophieren, ohne darüber zu sprechen, als die Konservatoren der finnischen Seele: die Kaurismäki-Brüder. Diesmal führt Mika Kaurismäki Regie, doch Aki ist im Geiste mit dabei. Schauplatz dieses sympathischen Kammerspiels ist die legendäre Kneipe, die sie in Helsinki führen: die Corona-Bar. Der Witz geht aufs Haus, denn die drei tragikomischen Trinker am Rande des Nervenzusammenbruchs saßen schon 2008 in "Three Wise Men" beisammen und sinnieren immer noch, Weltuntergang hin oder her, über ihre Beziehungen und den Sinn des Lebens.

Niemand ist bei den Kälbern

Josef Grübl: Erstaunlich, wie viele Menschen immer noch vom Landleben träumen. Weiß man doch, dass sich die Leute dort nichts zu sagen haben, dass sie saufen, schlagen, herumvögeln. Weiß man nicht? In Sabrina Sarabis Romanverfilmung geschieht das aber - und zwar genau in der Reihenfolge. Das Bauernleben in Mecklenburg-Vorpommern gleicht hier einer Art Vorhölle, kein Wunder also, dass die Jungbäuerin und Kälber-Kümmerin Christin weg will. Der Suff, der Sex und die Schläge machen sie aber ganz lethargisch. Die stets fabelhafte Saskia Rosendahl ist auch in dieser Rolle eine Schau, ein Lichtblick in all der Landtristesse.

Nightmare Alley

Sofia Glasl: Augen starren von überall her. Sie scheinen direkt in die Seelen derer zu blicken, die sich schon immer unsichtbar gefühlt haben: die Hellseherin mit Tarotkarten, ein Wilder mit irrem Blick, ein eingelegter Fötus mit drei Augen. Wo sonst das Übernatürliche in die Realität der märchenhaften Horrorwelten von Regisseur Guillermo del Toro hereinbricht, sind es in dieser Romanadaption nun die menschlichen Abgründe. Die Schausteller eines Kuriositätenkabinetts bereichern sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg an der Gutgläubigkeit ihrer Kundschaft. Mittendrin Stanton Carlisle, mit verschlagener Jungenhaftigkeit gespielt von Bradley Cooper. Der treibt seinen Mentalisten-Auftritt zu weit, fällt auf seinen eigenen Trick hinein und entfesselt in diesem überbordenden Retro-Noir ein Grauen, das besser hinter der Fassade der Normalität geblieben wäre.

Sing 2 - Die Show deines Lebens

Anke Sterneborg: Sechs Jahre nach "Sing" legt Garth Jennings nach, mit dem bewährten Mix aus liebenswertem Charme, fidelem Witz, bonbonbunten Farben und schwungvoll gecoverten Songs unter anderem von U2, Aretha Franklin und Drake. Der im Original von Matthew McConaughey gesprochene Koala Buster Moon will es mit seiner im ersten Film zusammengestellten Tiertruppe auf die ganz große Las-Vegas-Bühne schaffen, mit einem gigantischen Science-Fiction-Musical-Spektakel und dem Comeback eines seit vielen Jahren zurückgezogenen Stars. Auf dem Weg dahin ist kein Widerstand zu groß, kein Heist zu kompliziert, keine aufblühende Bühnenchorografie zu aufwendig, um nicht mit findigen Ideen überwunden zu werden.

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