15:17 to Paris
Es kann schon sein, dass "15:17 to Paris", die neueste Regiearbeit von Clint Eastwood, nicht zu den besten Werken seiner Karriere gehört - viele Kritiker in den USA wirkten etwas ratlos, aber es gab auch große Verteidiger. Immerhin geht es um den vereitelten Islamistenanschlag im Fernzug Brüssel - Paris im August 2015, und Eastwoods Idee, die drei amerikanischen Reisenden, die den Attentäter schließlich überwältigten, sich mit großem Minimalismus selbst spielen zu lassen, bis hin zum dramatischen Finale, ist in jedem Fall hochinteressant. Der deutsche Warner-Chef Wilfried Geike aber versteckt den Film konsequent - und gibt auch auf Anfrage keine Auskunft dazu. Jedenfalls gab es, außer für einen Tagesthemen-Beitrag mit Eastwood, offenbar keine Vorführung für Journalisten, und die Präsenz in den Kinos wird minimal sein. In München wird "15:17 to Paris" von diesem Donnerstag an nur in einem Kino laufen, einmal am Tag. Immer öfter versuchen Verleiher auf diese Weise, Herausbringungskosten zu sparen und Filme jeder Diskussion zu entziehen, was in diesem Fall vor allem ein Affront gegen den Filmkünstler Eastwood ist. Dieser ist seinem Studio Warner seit mehr als vierzig Jahren treu verbunden - seit Kubricks Tod ist er der Warner-Regisseur schlechthin. Gäbe es im deutschen Filmgeschäft noch irgendeinen Respekt für Kinolegenden, müsste sich die Branche jetzt wirklich schämen.
Arrythmia
Tage und Nächte mit einem Notarzt, und zwar einem ziemlich guten, der vielfach unter Druck steht. Die Notfälle brauchen schnelle Hilfe; sein menschenverachtender Chef will ihn loswerden; seine Frau droht ihn zu verlassen, weil er ihr weniger Beachtung schenkt als seiner Wodkaflasche. Boris Khlebnikov gibt dem Drama strenge Form und hohes Tempo, er konzentriert es auf das atemberaubende Spiel der Hauptdarsteller und die deprimierenden Seiten der russischen Gesellschaft.
Farewell Halong
Duc Ngo Ngoc begleitet Menschen, die in der Halong-Bucht in Vietnam in relativer Idylle auf dem Wasser in Floßhäusern leben, von Tourismus und Fischfang - und dann von der Regierung aufs Land umgesiedelt werden. Angenehme, entwaffnende Doku, durch sie man sich entspannt durchtreiben lassen kann, bis man auf ein echtes Hindernis stößt: Die Umsiedlung verursacht private und wirtschaftliche Probleme.
Ghost Stories
Der Verstand sieht, was er sehen will, mit dieser alten Horrorregel geben Andy Neumann und Jeremy Dyson drei Cheap-Thrill-Geistergeschichten einen neuen, bösen Twist. Nyman selbst spielt einen Professor, der gern paranormalen Humbug entlarvt, nur um dann aufs Glatteis der Wahrnehmung geführt zu werden, bis das rätselhaft nichtssagende erste Bild eine neue Bedeutung bekommt. Die Verfilmung des spektakulären britischen Bühnenerfolgs lebt von der atmosphärischen Dichte der Schauplätze: ein altes verlassenes Irrenhaus, ein verwahrloster Wohnwagen, eine finstere Höhle.
Die Haut der Anderen
Gefeierter Autor mit Schreibblockade, das ist die Klischeefigur überhaupt. Bei Thomas Stiller hat sich der Held auf "anspruchsvolle" erotische Literatur spezialisiert, bei einer Lesung vor brav lauschenden Bildungsbürgern verwandelt sich "Annabelles Geschlecht in eine zuckende Furche". Sein Lektor sagt: "Das liest sich ja wie ,Fifty Shades of Grey'!" Recht hat er, näher ist das Ganze aber an öffentlich-rechtlichen Vorabendserien. Braucht so ein mieser, labberiger Schmarren wirklich eine Kinoauswertung?
Kindheit
Wenn Kinder einfach Kinder sein dürfen - diese Doku begleitet den Alltag in einem Kindergarten in Norwegen. Die Erzieher sehen sich dort als Begleiter, die zwar mal Streit schlichten, doch die Kinder meist einfach machen lassen. Auf Bäume klettern, ausprobieren, wie Ameisen schmecken, die tollsten Fantasiegeschichten erzählen: Indem sie die pure Freude am Entdecken zeigt, gelingt Margreth Olin ein ruhiges, überzeugendes Plädoyer dafür, Kindern ihren Freiraum zu lassen.
The King - Mit Elvis durch Amerika
Mit Elvis' Rolls Royce, der nicht mehr der tüchtigste ist, geht es durch die USA. Ihr hättet einen von seinen Cadillacs nehmen sollen, einen amerikanischen Wagen, kommentiert boshaft "The Wire"-Autor David Simon. Elvis und America first, das ist die Formel von Eugene Jareckis schwindelerregender Tour, von den Fünfzigern bis zur Trumpzeit heute. Alles ist drin: Wie Elvis den Schwarzen ihre Musik klaut, wie Ed Sullivan ihn nicht in seiner Show haben will, wie er zum Militär muss, in Hollywood den Erfolg sucht und in Vegas ein Revival erlebt. Musiker erinnern sich, Ethan Hawke, Alec Baldwin und Ashton Kutcher kommentieren. Das Authentische ist spektakulär in diesem Film.
Lady Bird
Wenn ein Film mit einem Sprung aus einem fahrenden Auto beginnt, verhandelt er zweifellos die ganz großen Fragen: Verstößt der Name, den einem die Eltern gegeben haben eigentlich gegen die Menschenrechte? Harmonieren blassrote Haare mit Omakleidchen? Wieviel Keuschheit ist man dem heiligen Geist schuldig? Saoirse Ronan macht als pubertierende Nonkonformistin in "Lady Bird" sehr glücklich, die Witze sind gut, und da es noch eine coole Nonne als Bonus gibt, verzeiht man auch, dass Greta Gerwig letztlich doch einen recht klassischen Coming-of-Age-Film gedreht hat.
Matti und Salmi und die drei größten Fehler des Universums
Mit einer Reihe gut gemeinter Tricks täuscht ein Elfjähriger seinen stets streitenden Eltern vor, es gäbe für sie Haus und Job in Finnland. Als sie tatsächlich dorthin übersiedeln, gibt es ein böses Erwachen, dafür lernt sich die Familie wieder lieben. Die Mechanik knirscht, die Schauspieler sind bemüht exaltiert, aber was gestresste Eltern bei ihren Kindern anrichten, macht Stefan Westerwelle doch sichtbar.
Pawo
Um auf das Leiden ihres Landes unter Chinas Terrorherrschaft aufmerksam zu machen, haben sich bis heute 150 Tibeter selbst verbrannt. Einer von ihnen ist Jamphel Yeshi. Ein zufällig aufgenommenes Foto machte ihn weltbekannt. Die Regisseure Marvin Litwak und Sonam Tseten haben ihm einen sprachlos machenden Film gewidmet, der zeigt, wie aus einem unbeschwerten Jungen ein politischer Aktivist wird. Unbegreiflich, wie man einem Volk, dessen Gebetsfahnen so friedlich im Wind wehen, zur Folter Nadeln unter die Fingernägel schieben kann. Eine Low-Budget-Produktion, die zu Recht mehrfach ausgezeichnet wurde.
Die Pariserin - Auftrag Baskenland
Sybille (Élodie Fontan) reist in ein baskisches Dorf, um dort für ihr Pariser Haifisch-Unternehmen einen kleinen Laden zu schlucken. Das lassen sich die rebellischen Basken nicht bieten. Ihr Verlobter und Geschäftspartner entpuppt sich als herzlos - Sybille entdeckt, dass sie mit baskischer Leidenschaft mehr anfangen kann, also schließt sie sich der Mission an, das Dorf vor der Gegenwart zu beschützen. Harmlose Komödie von Ludovic Bernard.
Roman J. Israel, Esq.
Denzel Washington spielt Roman Israel, einen schrulligen Strafverteidiger und Bürgerrechtler in Los Angeles. Der neue Film von Dan Gilroy ("Nightcrawler") und seine Hauptfigur ähneln sich: Sie sind zwar grundsätzlich sympathisch, kommen aber in einem schlecht sitzenden Anzug daher, der aussieht, als stamme er noch aus den Siebzigern. Sie machen einen verlotterten, zerstreuten Eindruck. Sie plappern komisches Juristenzeug, das man nicht versteht. Man macht sich Sorgen um sie.
Solange ich atme
Die große Liebe von Robin und Diana (Andrew Garfield und Claire Foy) wird früh auf eine harte Probe gestellt, als er durch Polio bewegungslos ans Bett gefesselt ist. Allen Widrigkeiten zum Trotz hält Diana zu ihm, organisiert einen Rollstuhl mit integriertem Beatmungsgerät, der ihn aus dem Krankenhausgefängnis befreit. Dann reisen sie als Botschafter für ein lebenswertes Leben Behinderter um die Welt. Gollum- und King-Kong-Darsteller Andy Serkis erzählt in seinem ganz analogen Regiedebüt eine allzu märchenhafte Geschichte vom Triumph des menschlichen Geistes über das Schicksal.
SPK Komplex
1970 gründete der Arzt Wolfgang Huber an der Uni Heidelberg das Sozialistische Patientenkollektiv und revolutionierte die Behandlung psychisch Kranker. Sein anderer Blick auf die Krankheit veränderte auch seinen Blick auf die Gesellschaft. Gerd Kroske lässt ehemalige Patienten, Mitglieder und Feinde des SPK von den Konsequenzen erzählen: Beginn der Antipsychiatrie, staatliche Hysterie, Radikalisierung und Kriminalisierung des SPK - verdrängte deutsche Geschichte, umsichtig aufbereitet.
Stronger
Boston Strong, das war die Parole im April 2013, nach dem Bombenanschlag auf den traditionellen Marathon der Stadt: Boston wird das verkraften, ist stark. Stronger erzählt die (wahre) Geschichte von Jeff Bauman, der an diesem Tag am Ziel stand und auf seine Freundin wartete, die mitlief, und dem eine der Bomben beide Beine abriss. Die Genesung ist schmerzhaft und mühsam. Auch das Mitleid und der Enthusiasmus der Menschen um ihn herum setzen Jeff zu ... Ihr wollt einen Helden aus mir machen, schreit er. Die Helden von David Gordon Green sind immer einsam und Einzelgänger, aber sie bekommen Sicherheit aus ihrer Gruppe, ihrem Milieu, aus diesem ganzen verrückten, überdrehten Amerika. Jake Gyllenhaal ist Jeff, Tatiana Maslany seine Freundin Erin. Wenn Jeff sich zusammenkauert in seinem Rollstuhl und gleichzeitig zum Mutmachen seinen Daumen hochsteckt oder beide Arme, das ist herzzerreißend.
Zeit für Utopien - Wir machen es anders
Dass der Kapitalismus blind auf sein Ende zusteuert und jede Menge Ressourcen verbraucht, ohne an die Zukunft zu denken, das ist die Prämisse dieses Dokumentarfilms. So weit, so apokalyptisch. Aber dann beantwortet der Regisseur Kurt Langbein an vielen Beispielen die Frage, wie die Menschheit ein anderes, ein menschenfreundlicheres Wirtschaftssystem finden könnte: von der Bio-Ziegenmolkerei in Bayern über eine genossenschaftliche Wohnanlage in Zürich bis zur Teefabrik, die die Belegschaft einem Großkonzern abgenommen hat. Ein die Augen öffnender, ein tröstlicher Film.