Filmreihe "Seeing Weimar":Aufstieg der Tyrannen

Filmreihe "Seeing Weimar": Ein lässiger, amouröser Film: Uno Henning und Édith Jéhanne in "Die Liebe der Jeanne Ney" von 1926.

Ein lässiger, amouröser Film: Uno Henning und Édith Jéhanne in "Die Liebe der Jeanne Ney" von 1926.

(Foto: La Cinetek)

Der liebevoll kuratierte Streamingdienst La Cinetek zeigt eine kleine Reihe zum deutschen Kino der Weimarer Zeit - Neuentdeckungen inklusive.

Von Fritz Göttler

Grimmig geht der Film los - Bürgerkrieg auf der Krim, nach der russischen Revolution: "Fanatische Kämpfer auf beiden Seiten. Hunger und Elend im Land. Leichter Verdienst für skrupellose Existenzen." Mit solchen Existenzen ist der Film vollgepackt, "Die Liebe der Jeanne Ney", 1926, von G. W. Pabst, mit dem fiesen Spiel, das sie durchziehen, mit jeder Menge männlicher toxischer Dummheit. Ein Mann blättert hastig erregt schon mal einige Bündel Geldscheine durch - eine Luftnummer, weil er das Geld erst morgen kriegen wird, als Belohnung für einen wiedergefundenen Edelstein. Dazu Diebstahl, Heiratsschwindel - an einer blinden jungen Frau -, plumpe Anmache.

"Jeanne Ney" ist eine der Überraschungen unter den 26 Filmen der kleinen Reihe "Seeing Weimar", die der Streamingdienst La Cinetek gerade im Programm hat, über das deutsche Kino zwischen 1918, dem Ende des Ersten Weltkriegs, und 1933, der Machtübernahme durch die Nazis. Die Reihe versammelt natürlich alle klassischen Filmprotagonisten, die unser Bild der Epoche bestimmen, Caligari und Mabuse und Nosferatu - monströse Manipulateure, die das Bürgertum der Nachkriegszeit zersetzen. Tyrannenfiguren hat Siegfried Kracauer sie genannt in seinem Buch "Von Caligari zu Hitler", in Vorahnung des großen Tyrannen Hitler. Auch der Professor Rath gehört dazu, verkörpert von Emil Jannings, der in "Der Blaue Engel" dem Showgirl Lola Lola - Marlene Dietrich! - verfällt und sein Brot hinfort mit Kikeriki verdient.

La Cinetek wurde in Paris etabliert, inspiriert von der weltberühmten Cinémathèque française, wo das Kino der Weimarer Zeit, die "Dämonische Leinwand" (Lotte Eisner), früh gewürdigt und gesammelt wurde. Der Streamingdienst, den es seit 2019 auch in Deutschland gibt, macht moderne Filmemacher zu Kuratoren, sie stellen Listen zusammen mit den wichtigsten Filmen der Kinogeschichte.

La Cinetek bemüht sich, möglichst viele davon ins Programm zu bekommen - immer wieder auch in Sonderreihen, wie nun zu Weimar. Man kann die Filme also chronologisch sehen, aber auch vertikal - welche Spuren hat etwa "Nosferatu" bei Christian Petzold, Martin Scorsese und Dario Argento hinterlassen, die ihn auf ihren Bestenlisten führen, "Metropolis" bei Paul Schrader, Fritz Langs "Spione" bei Olivier Assayas, "Menschen am Sonntag" bei Maren Ade, Jutta Brückner und Raymond Depardon, oder Langs "M" bei Christoph Hochhäusler?

Die Weimarer Filme sind in sich zusammengezogen, reduziert auf bedrückende, bedrängende bürgerliche Interieurs. Diese werden dann Schauplätze der Lüste und der Traumata, besonders rigoros bei G. W. Pabst, in "Die Büchse der Pandora" mit der unnahbaren Louise Brooks, oder in der Verfilmung der "Dreigroschenoper", gegen die Bert Brecht erfolglos einen Prozess anstrengte. "Die Liebe der Jeanne Ney" dagegen ist, trotz all der skrupellosen Existenzen, ein lässiger, amouröser Film, er zieht nach dem Beginn auf der Krim schnell nach Paris, in die Stadt der Liebe, ist auf den Straßen gefilmt, vor dem Gare du Nord und neben Notre-Dame, als wär man schon in der Nouvelle Vague. Kein Wunder, dass der Film auf der Wunschliste von Wim Wenders auftaucht.

Ein "Inflationskino" entsteht, es zeigt der Verfall aller Werte

Französischen Esprit erlebt man auch in "Ariane", von Paul Czinner inszeniert nach dem Roman von Claude Anet, die Ariane spielt Czinners Frau Elisabeth Bergner - beide sind kurz danach nach England emigriert -, ein junges, sehr selbstgewisses, also irgendwie rebellisches Mädchen, das Probleme mit seinen Vorstellungen von Freiheit bekommt, als es sich in einen älteren Mann verliebt: Rudolf Forster - der im gleichen Jahr 1931 Mackie Messer war in Pabsts "Dreigroschenoper". Eine Liebe zwischen einem älteren Mann und einem Mädchen, die auch heute noch unerhört modern wirkt, weil sie wechselhaft ist, ohne Versprechungen und ohne das Phantasma der Erfüllung. Man kennt den Schluss der Geschichte - der Mann verlässt die Stadt, zu einem Trip in die weite Welt, und zieht in letzter Sekunde das Mädchen vom Bahnsteig zu sich in den fahrenden Zug - aus der Version von Billy Wilder, 1957, mit Audrey Hepburn und Gary Cooper.

In "Der Katzensteg", 1927, von Gerhard Lamprecht, spielt das Französische immer mit als Gegenentwurf zur preußischen Disziplin und Pflichtideologie. Der Film, eben erst von der Deutschen Kinemathek in Berlin restauriert, spielt zur Zeit der napoleonischen Kriege, es geht um Kollaboration und Verrat, um Treulosigkeit und Solidarität, um die Momente, da im starren Zeremoniell die größte Leere spürbar wird. Männer greifen Frauen, wenn die sich ihnen widersetzen wollen, brutal an den Hals ... Ein junger Adelsherr lebt in den Ruinen seines Schlosses so einsam und als Selbstversorger wie der Graf Orlok, der "Vampyr" in "Nosferatu".

Der Lust am Manipulieren setzt Ernst Lubitsch die Allmacht des Spielerischen entgegen, in seinen frühen Lustspielen "Die Austernprinzessin" oder "Die Bergkatze" - so viel Anarchie war nie wieder im deutschen Kino, die Markt- und Handlungsgesetze werden hier schamlos ausgenutzt und zersetzt. "Inflationskino" hat Enno Patalas die Filme von Lubitsch genannt, weil "sie den Zerfall der anerkannten Werte vorführen. Wie etwas verbraucht, zerschlissen, aufgezehrt wird, das führen die Filme selbst vor. Und auch der Wechsel von einem Film zum anderen gehorchte dem Prinzip des produktiven Konsums".

Zur SZ-Startseite

Serien des Monats Juli
:Die Frage nach Walter White

Matthias Brandt in "King of Stonks", Psychospielchen im Knast und die finale Staffel von "Better Call Saul": die Serien des Monats.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: