Filmhöhepunkte in Berlin:Von Fabelwesen und Bretterbuden

Die Filmemacher Kelly Reichardt, Christian Petzold und Philippe Garrell erzählen auf der Berlinale von Liebe, Freundschaft, Familie. Am schönsten aber gelingt das Reichardt in "First Cow".

Von Susan Vahabzadeh

Der Fernsehturm ist in Wolken verschwunden und es regnet auf die Straßen hinab, als wollten sie sich füllen, damit Günther, der riesige Wels, zur Premiere von Christian Petzolds "Undine" in den Berlinale-Palast schwimmen kann. Er hat mehrere Aufritte im Film, denn Petzolds Bearbeitung der Sage von der Nymphe, die ins Wasser zurück muss, wenn sie nicht wiedergeliebt wird, taucht in diverse Feuchtgebiete unter.

Undine (Paula Beer) ist Historikerin und erzählt den Gästen des Senats von Berlin. Als ihr Freund sie verlässt, glaubt sie, weder er noch sie könnten jetzt weiterleben. Aber dann begegnet sie bei einem ihrer Vorträge dem Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) und die beiden verlieben sich ineinander, wie vom Blitz getroffen. Der Moment, in dem er bei einem Einsatz Günter zum ersten Mal sieht, ist wunderbar surreal. Aber es gibt hier vielleicht eine mythische Unterwasserwendung zu viel in den Wirrungen, die dazu führen, dass auf keiner Verbindung Segen ruht.

"Undine" wirkt ein bisschen wie eine kleine, ein bisschen zu sagenhaft geratene Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer großartigen Zeitanalyse. All diese Menschen sind unbehauste Freiberufler, sie wohnen möbliert oder in schlechten Hotelzimmern, und ihr Verschwinden fällt nicht weiter auf. Die kleinen Fragmente der Vorträge von Undine sind großartige Vignetten zu Berlin, wie im Vorübergehen. Das wiedererbaute Stadtschloss, sagt sie beispielsweise, zeigt uns, dass keinerlei Fortschritt möglich sei.

Udine by Christian Petzold

Paula Beer als Wassergeisterfrau Undine in Christian Petzolds gleichnamigem Film.

(Foto: Christian Schulz)

Man beurteilt die Vergangenheit oft an dem, was von ihr noch übrig ist. Was nun Städte betrifft, ist das trügerisch. Es sind die solide gebauten Herrenhäuser, die übrig bleiben, nicht die baufälligen Hütten, in denen das Fußvolk gehaust hat. Die amerikanische Filmemacherin Kelly Reichardt hat mit "First Cow" einen Pionierfilm gemacht, in dem die Anfänge Amerikas so aussehen, wie sie vielleicht wirklich waren: aus unebenen Brettern zusammengehauene Buden im Schlamm, bevölkert von Gestalten mit wenig Sinn fürs Karitative.

Der amerikanische Traum ist von Anfang an eine Lüge. Die Sieger werden Sieger bleiben

"First Cow" beginnt in der Gegenwart. An einer Flussbiegung schiebt sich ein Dampfer ins Bild, und man hat gleich den Eindruck, dass diese Landschaft betörender wäre, hätte die Zivilisation sie in Frieden gelassen. Eine junge Frau findet ein altes Grab, zwei aneinandergekuschelte Skelette. Ein harter Schnitt zurück befördert uns zu dem Trek, der den jungen Cookie an genau diesen Ort bringt. Er ist eine Seele von Mensch und dreht beim Pilzesammeln sogar die auf den Rücken geplumpsten Eidechsen um. Ein Fremdkörper unter den knallharten Goldgräbern, die ihn als Koch mitgenommen haben. Als Cookie einen nackten Chinesen im Gebüsch entdeckt, hilft er ihm beider Flucht - erstens, weil er ja sogar Eidechsen hilft, und zweitens, weil er dann für einen Moment nicht mehr allein ist unter hässlichen Barbaren.

Die beiden begegnen sich wieder, in einer euphemistisch Fort genannten Bretterbuden-Ansammlung, und wie Cookie und der Chinese King Lu dann Freunde werden, zeigt Reichardt in ein paar herrlich humorvollen Momenten. Cookie macht aus dem Verschlag das Beste. Zusammen entwickeln die beiden einen Plan: Wenn sie Cookies Backwaren verkaufen, Köstlichkeiten im Vergleich zu allem, was es hier sonst gibt, können sie sich bald Land noch viel weiter im Westen kaufen, wo es wärmer ist. Oder ein Hotel. Oder eine Bäckerei. Man bräuchte aber, damit Cookies Gebäck wirklich schmeckt, ein bisschen Milch.

Kelly Reichardt hält sich nicht gern an die Spielregeln des amerikanischen Kinos. Andernfalls würde ihr vielleicht die Ehre erwiesen, die sie seit mehr als zehn Jahren verdient. Es ist völlig richtig, ihren Film im Wettbewerb der Berlinale zu zeigen, obwohl er keine Weltpremiere mehr ist. Viele ihrer Filme sind Western, "Meek's Cutoff" (2010) beispielsweise, in dem sie die soziale Dynamik eines Pioniertreks untersucht. Auch diesmal bringt sie ganz klar auf den Punkt, worauf sie hinaus will: "First Cow" ist ein Film über Gier. Die entsteht mit der ersten Kuh im Fort und vermengt sich mit dem Feudalismus, der schon da ist: Der amerikanische Traum ist von Anfang an eine Lüge. Die Sieger werden Sieger bleiben.

Was bedeutet es für einen Menschen, nirgends hinzugehören?

Kelly Reichardt ist etwas Besonderes unter den amerikanischen Filmemachern, und das liegt vor allem daran, dass sie ihren ganz eigenen Erzählrhythmus hat und die Spielregeln ignoriert. Manchmal treibt sie die Handlung gar nicht mehr voran, dann wieder wird sie ungeheuer ökonomisch. Das entspricht vielleicht nicht der dramaturgischen Konvention der permanenten Atemlosigkeit, aber wohl ihren eigenen Prioritäten. Gegen Ende will sie ihre beide Figuren nicht loslassen, als wären sie ihr auch selbst ans Herz gewachsen. Sie beobachtet sie noch einen Moment, wenn man längst schon weiß, wie ihre Geschichte enden wird.

Während Reichardt aus der Vergangenheit heraus die Gegenwart erklärt, hätte der 71-jährige französische Filmemacher Philippe Garrel seinen Film "Le Sel des Larmes / Das Salz der Tränen", ebenfalls im Wettbewerb, besser in den sechziger Jahren spielen lassen, denn daher stammen die Frauenfantasien, die er durch das Leben seiner Hauptfigur ziehen lässt. Luc kommt nach Paris, um Möbeltischler zu werden. Er scheint einen umwerfenden Charme zu haben, der sich auf der Leinwand nicht mitteilt: Jede Frau, die er anspricht, liegt ihm gleich zu Füßen. Luc ist ein Filou, der mehrere Herzen bricht, bis er seiner Meisterin begegnet. Diese Frauen, die nackt an offenen Fenstern duschen, sind Fabelwesen: die hingebungsvolle Jungfrau, die Egoistin, die eine Schwangerschaft vorgibt, um Luc anzuketten, die femme fatale. Es gibt nicht viel zu entdecken in "Le Sel des Larmes", außer vielleicht unfreiwilliger Komik.

Das Narrativ, von dem der neue Berlinale-Leiter Carlo Chatrian sich wünschte, es möge sich aus den Filmen des Wettbewerbs heraus erklären, erzählt von Bindung und Verwurzelung: Freundschaft bei Reichardt, Liebe bei Petzold. Und Familie im italienischen Künstlerporträt "Hidden Away" über den Maler Antonio Ligabue, mit dem der Wettbewerb begann: Was bedeutet es für einen Menschen, nirgends hinzugehören? Garrels Film ist dazu ein fast zynischer Kommentar. Denn sein Luc wirft alles weg, was ihm an Verwurzelung geboten wird und wundert sich dann, dass er allein ist.

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