Filmfirma Arri:Keine Schraube locker

Die Münchner Firma wird 100 Jahre alt. Mit ihren Erfindungen, besonders den Kameras, hat sie Filmgeschichte geschrieben und prägt Hollywood bis heute.

Von Philipp Bovermann

Der Regisseur Edgar Reitz hat mal die schöne Geschichte erzählt, wie er zu seiner ersten Kamera kam. Lange bevor er seinen epochalen "Heimat"-Zyklus drehte, studierte er Theaterwissenschaften an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und wollte unbedingt Filme machen. Also scharwenzelte er immer wieder in der Hofeinfahrt der Firma "Arnold & Richter" - kurz Arri - in der Türkenstraße herum, gleich hinter der Uni. Irgendwann fasst er sich ein Herz, fragte beim Pförtner nach dem Herrn Arnold und wurde an einen Mann verwiesen, der im weißen Kittel und mit weißen Haaren auf dem Hof stand.

Ob er wohl bitte eine Kamera ausleihen dürfe? Der Filmtechnik-Pionier schaute ihn komisch an, sagte komm mal mit und drückte Reitz eine Kamera in die Hand. Die könne er gerne haben, aber nur unter einer Bedingung: Er solle sie komplett auseinanderschrauben und am nächsten Tag funktionsfähig wieder zurückzubringen. Reitz, Sohn eines Uhrmachers, konnte so etwas. Er durfte die Kamera haben und der "alte Arnold" half ihm noch dabei, ein Stativ auf sein Fahrrad zu schnallen.

Zu diesem Zeitpunkt, Ende der Fünfzigerjahre, trennten die Firma Arri nur noch wenige Jahre vom Gewinn ihres ersten Technik-Oscars. Die amerikanische Filmakademie ehrt nämlich nicht nur künstlerische Leistungen, sondern auch technische Errungenschaften, die über Jahre hinweg die Möglichkeiten des Filmemachens signifikant erweitert haben. Der Glamour allerdings bleibt meist den Künstlern vorbehalten, die Techniker agieren im Hintergrund. Auch die beiden Firmengründer August Arnold und Robert Richter wollten eigentlich in erster Linie selbst Filme machen, als sie im Jahr 1917 ihr Geschäft in der Türkenstraße aufmachten.

19 Oscars hat das Unternehmen schon für seine Erfindungen verliehen bekommen

Sie waren noch Teenager und brauchten Geld für eigene Produktionen, also entwickelten und kopierten sie dort Filmaufnahmen. Außerdem basteln sie an Kameras herum, um sie handlicher zu machen. Mit denen arbeiten sie als freiberufliche Kameramänner, hauptsächlich am Set heute längst vergessener "Isar-Western", die auf den oberbayrischen Wiesen rund um München entstanden.

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Dennis Hopper, hier am Set von "The Last Movie" (1971), drehte schon "Easy Rider" mit einer Arri-Kamera.

(Foto: imago)

Western waren damals nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil sie draußen bei Tageslicht gedreht werden konnten. Die Idee, dass man auch künstlich in Innenräumen beleuchten könnte, begann gerade erst sich durchzusetzen. Auch Arnold und Richter schraubten eigene Scheinwerfer zusammen und brachten 1924 ein Modell auf den Markt, das von einem Flugzeugmotor in einem mobilen Generator angetrieben wurde. Filmemachen und Krieg, das ließ sich zu Beginn der Filmgeschichte nicht immer auf den ersten Blick unterscheiden.

In beiden Bereichen, Kamera und Beleuchtung, ist Arri heute international Spitzenreiter. Den Unternehmensstandort Türkenstraße gibt es noch immer. Bis zum geplanten Umzug 2018 in einen Neubau in der Parkstadt Schwabing wird er auch der Firmensitz bleiben. Dort sind einige der Oscars ausgestellt, welche das Unternehmen bekommen hat - 19 Stück sind es inzwischen. Man hätte sie prunkvoller inszenieren können, in einem dunklen Schrank zum Beispiel, in dem Spotlights die einzelnen Statuetten anstrahlen, es die Amerikaner gerne machen. Tatsächlich stehen sie einfach so kreuz und quer in einer Glasvitrine neben dem Eingang herum, als hätte die Belegschaft sie bei einem Fußballturnier gewonnen.

Viel mehr Aufmerksamkeit bekommt der Schrank, in dem die Kameras stehen. Zum ersten Hit-Modell wurde die Arriflex 35, die 1937 auf den Markt kam. Sie war die erste Spiegelreflex-Filmkamera, erlaubte also dem Kameramann, ohne optische Verschiebungen im Sucher das Bild zu sehen, das er gerade aufnahm - insbesondere bei einem dynamischeren Einsatz der Kamera, bei Schwenks und Bewegen, gab es zuvor häufig Einstellungsfehler. Außerdem war sie recht leicht, verglichen mit den damals üblichen Schlachtschiffen der Firma Mitchell. Was das für die gestalterischen Möglichkeiten bedeutet, sieht man zum Beispiel im Hollywood-Noir-Klassiker "Die schwarze Natter" von 1947. Der Regisseur Delmer Daves kaufte dafür eine Arriflex 35 von der US-Regierung, die nach dem Krieg einige davon in die Vereinigten Staaten schaffen ließ. Die erste halbe Stunde besteht fast nur aus "subjektiver Kamera". Der Zuschauer sieht also, was die später von Humphrey Bogart gespielte Figur auf ihrer Flucht aus dem Gefängnis sieht und hört dazu seine Stimme. Filmhistorisch ist das eine nur selten genutzte Spielerei geblieben, aber man erkennt, was für ein Maß an Autorschaft hier dem Kameramann potenziell zukommen kann, wenn er die richtige Kamera hat. Auch die Bewegungen seines Körpers formten von nun an den filmischen Raum mit.

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Stanley Kubrick (rechts) am Set von "A Clockwork Orange" (1971). Auf der Schulter hat er eine Arriflex 35 IIC.

(Foto: imago)

Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrunderts die große Zeit der Autorenfilmer anbrach, eigneten sich viele Regisseure diese Kontrollmöglichkeiten an und griffen selbst zur Handkamera. Stanley Kubrick zum Beispiel arbeitete seine ganze Karriere hindurch mit unterschiedlichen Arriflex-Modellen. In der berühmt gewordenen "Singing in the Rain"-Missbrauchsszene in "A Clockwork Orange" etwa mischte er sich mit einer Arriflex 35 IIC selbst in das von ihm inszenierte Geschehen. Während Malcolm McDowell das rote Kleid der überfallenen Frau zerschneidet, schießt Kubrick über die Schulter Nahaufnahmen, die später im Film zur brutalen Dynamik der Szene beitrugen.

Die Arriflex ist um diese Zeit überall dort dabei, wo Kino unter zuvor unmöglichen Bedingungen entsteht: Im Asphaltstaub von "Easy Rider", bei "Deliverance" auf Kanus in der amerikanischen Wildnis, mit Werner Herzog im Dschungel gestrandet bei "Fitzcarraldo". Die in München zusammengeschraubte Arriflex und ihr Nachfolger, die Arricam, gelten als handliche und unverwüstliche Arbeitstiere. So marschierte Arri behutsam aber sicher in Richtung Weltmarktführung und erschloss sich dabei weitere Geschäftsfelder: Die Kameratechnik für die Medizin, den Verleih von Filmequipment und die Postproduktion. Eine klassische Erfolgsstory also, wie sie der deutsche Mittelstand so gern von sich erzählt. Mit einem Stolz, der mehr den Ingenieursleistungen als der Wagenladung Oscars gilt - als trüge man den Meister Eder-Kittel noch unter dem Anzug. Der "alte Arnold", so erzählt Edgar Reitz, ging bei ihrer ersten Begegnung im Hof herum und sammelte verlorene Schrauben ein, die waren schließlich noch gut. Reitz erwähnt in seinen Arri-Erinnerungen auch einen jungen Mann, der damals neu im Kopierwerk anfing. Der übernahm die Lichtbestimmung - heute sagt man "Grading" - bei seinem ersten Material der "Heimat". Franz Kraus heißt der junge Mann.

Die Digitalisierung zwang die Firma, blitzschnell zum Informatik-Konzern zu werden

Heute, dreißig Jahre später, sieht er ein bisschen so aus wie der "Monaco Franze" Helmut Fischer aus Helmut Dietls Kultserie. Er spricht auch ein ebenso schönes, ruhiges Münchnerisch. Zusammen mit dem Juristen Jörg Pohlman bildet er heute den Vorstand von Arri. Kraus hat erlebt, wie das Unternehmen 2009 vor dem Abgrund stand, als das digitale Kino sich endgültig durchsetzte und keiner mehr analoge Kameras kaufen wollte. "Wir mussten fast von Null wieder anfangen", sagt er und erläutert, dass Kameras früher lediglich den Film transportieren mussten, auf dem dann das eigentliche Bild entstand. Heute findet das im Sensor und der nachgelagerten Hard-und Software statt. Innerhalb kürzester Zeit musste also aus einem Feinmechanik-Betrieb ein Informatik-Unternehmen werden.

Daher sind es heute vor allem die IT-starken Japaner, Panasonic und Sony, die Arri Konkurrenz machen. Das Münchner Unternehmen ist aber der einzige traditionelle Kamera-Hersteller, der den Schritt ins Digitale wirklich geschafft hat. Das hat eine Menge mit der Struktur als Familienunternehmen zu tun. Keine Aktionäre mussten für den Wandel überzeugt werden, sondern die Nachfahren der beiden Firmengründer, als Kraus sich Mitte der Neunziger mit ihnen zusammensetzte. Damals begann sich das digitale Kino gerade erst am Horizont abzuzeichnen. Kraus schlug die Entwicklung eines "Arrilasers" vor. Der sollte eines Tages Bildinformationen ebenso zuverlässig digital auslesen, wie das zu diesem Zeitpunkt die chemischen Prozesse im Kopierwerk taten.

Filmfirma Arri: August Arnold und Robert Richter (links) gründeten 1917 ihre Firma Arri in der Münchner Türkenstraße.

August Arnold und Robert Richter (links) gründeten 1917 ihre Firma Arri in der Münchner Türkenstraße.

(Foto: Arri)

Nachdem der Arrilaser eine Zeitlang als Brückentechnologie diente, um analoge Filmrollen zu digitalisieren, bildet er auch die Grundlage für die 2010 eingeführte Arri Alexa. Sie ist die erste Digital-Kamera, die skeptische Regisseure im Blindtest an der Frage verzweifeln lässt, was "echter" Film ist und was digital. Mit Ausnahme der Retro-Schnulze "La La Land" ging seit 2012 jeder Oscar für die beste Kamera an Produktionen, die mit der Alexa gedreht wurden. Sie ist auch deutlich günstiger als ihre analogen Vorgänger. Die stete Anstieg von Filmen, die seit einigen Jahren überall auf der Welt in Kinoqualität entstehen, ist zum Teil auch ein Verdienst der Alexa. Arri verkauft heute in einem Monat so viele Kameras wie früher in einem Jahr, obwohl das Unternehmen damals schon Marktführer war. Franz Kraus und Jörg Pohlman haben also allen Grund so zu grinsen wie zwei kleine Jungs, deren Baumhaus ein fieser Sturm nicht von den Ästen blasen konnte.

Nicht nur die Kameras sind heute digital, sondern auch das Licht - Arri Lighting hat natürlich auch umgestellt, "programmierbares Licht".

Im ehemaligen Kopierwerk, das 2015 schließen musste, weil seit dem Siegeszug der Alexa fast keiner mehr analog dreht, laufen jetzt Menschen in Raumanzügen herum und bauen Kameras. Nicht ein Staubkörnchen darf hier rein, es wäre sonst für immer in einem Sensor gefangen. Man würde es auf allen Bildern sehen, die die Kamera künftig macht.

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