Filmfestspiele von Cannes 2014:Festival der politischen Rundumschläge

Goldene Palme für türkischen Film ´Winter Sleep"

Der türkische Film "Winter Sleep" von Nuri Bilge Ceylan gewinnt 2014 die goldene Palme.

(Foto: dpa)

Die 67. Filmfestspiele von Cannes waren weniger ein Festival der Frauen als der Generalabrechnungen: Es ging um Gesellschaftskritik, islamistische Tuareg und eine küssende Iranerin.

Von Susan Vahabzadeh, Cannes

Es sollte alles anders werden in diesem Jahr in Cannes. Nachdem im vergangenen Jahr überhaupt kein Film einer Regisseurin im Wettbewerb war, hat die Festivalleitung versucht, es in diesem Jahr besser zu machen. Das wurde auch an der Zusammensetzung der Jury sichtbar: Eine Präsidentin, Jane Campion, dazu eine paritätisch besetzte Jury, vier Männer und vier Frauen.

Eine davon sorgt nun im Nachhinein für Aufregung, die iranische Schauspielerin Leila Hatami ("Nader und Simin - eine Trennung"): Sie hatte den Präsidenten des Festivals, Gilles Jacob, mit einem Kuss begrüßt. Prompt hat eine Gruppe im Iran Beschwerde eingereicht, denn nach dortigem Recht würde Hatami eine Auspeitschung drohen, weil sie einen Mann geküsst hat, mit dem sie weder verheiratet noch verwandt ist. Die Sorte von Frauen-Thema hatte man sich beim Festival sicher nicht gewünscht.

Neben den weiblichen Jurymitgliedern waren auch zwei Filmemacherinnen im Wettbewerb vertreten: "Still the Water" von Naomi Kawase und "Le Meraviglie" von Alice Rohrwacher über ein junges Mädchen, dass mit den Eltern in einer alternativen Bauern-Kommune lebt. Ihr Vater ist allein unter Frauen, nebenher Imker, und seine Töchter und die Ehefrau sind für ihn wie seine Bienen: Sie machen die Arbeit, und er sammelt den Honig ein. "Le Meraviglie" sticht nun tatsächlich heraus - unter anderem, weil Rohrwacher kein Kino der großen Gesten macht, sondern ganz unaufgeregt eine Mädchen-Coming-of-Age-Geschichte erzählt, sehr der Natur verbunden. Sei erhielt dafür den zweiten Preis, den "Grand Prix".

Ansonsten kann man über die 67. Filmfestspiele von Cannes aber sagen: Ein Frauenfilmfestival war das wahrlich nicht, es ging eher um große Politik, oft um männliche Identitätskrisen. Trotz des hohen Niveaus wirkte das Festival gegen das letztjährige etwas flau: Weniger große Stars, weniger Schaulustige, eine etwas geringere Dichte von Filmen, bei denen man sich ganz sicher ist, dass sie auch in hundert Jahren noch als epochal gelten werden.

Man kann das Kino nach Jahrgängen sortieren. Es ist ein eigentlich eher eigenartiges Phänomen ist, dass sich Filmemacher in der ganzen Welt ein bestimmtes Jahr aussuchen, um besonders gut drauf zu sein oder eben nicht. 2013 war ein ganz besonders spektakulär eindrucksvoller Jahrgang, das zog sich bis zu den Oscars vor zwei Monaten - es gab ein halbes Dutzend Favoriten. Vielleicht ist die Erklärung dafür, eine Mischung aus Zufall und Finanzkrise, die für manches Filmprojekt eine Verzögerung bedeutet hat. Eine Art Stau der Visionen entstand, der sich dann auf einen Schlag auflöste. 2014 ist anders, ruhiger, weniger bahnbrechend. Aber dafür war es ein Jahrgang, in dem die Politik eine ganz große Rolle spielte - das Jahr der Generalabrechnungen, der ganz großen Rundumschläge.

Ein Jahr der spektakulären Gesellschaftskritik

"Winter Sleep" von Nuri Bilge Ceylan, der die Goldene Palme gewonnen hat, ist dafür ein gutes Beispiel. In Ceylans Film, der im Winter in einem abgelegenen Hotel in Anatolien spielt , wird in langen Dialogszenen zwischen einem wohlhabenden Intellektuellen und der wesentlich jüngeren Ehefrau, der Schwester und dem Geistlichen aus dem nächsten Dorf nach und nach die gesamte Türkei auseinander genommen. Jede Gesellschaftsschicht kriegt dabei ihren Anteil Schuld zugewiesen an Borniertheit und Stagnation, dem Graben zwischen Arm und Reich, der Flucht in die Religion. Man könnte sagen: Wenn Ingmar Bergman "The Shining" überarbeitet hätte, wäre vielleicht etwas Ähnliches herausgekommen.

Der zweite große Rundumschlag hat den Preis bekommen fürs beste Drehbuch - Andrey Zvyagintsev macht da Russland den Prozess, in Form eines Thrillers, in dem ein unbescholtener Mann von den Machthabern seines Dorfes nach allen Regeln der Kunst vernichtet wird , weil sie das Grundstück am Wasser haben wollen, auf dem sein Haus steht. Den Preis für den besten Regisseur bekam der Amerikaner Bennett Miller für "Foxcatcher" - auch ein Werk über das ganze System, darüber, wie der Kapitalismus in aller Bereiche der Gesellschaft hineinregiert.

Dazu kommt noch "Timbuktu" des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako, der Lieblingsfilm der französischen Kritiker während des diesjährigen Festivals, der aber bei der Preisvergabe am Ende leer ausging. Sissakos Film erzählt davon, wie die Menschen unter den Repressalien islamistisch geprägter Tuareg in Mali leiden. Der Film lief am Anfang des Festivals, während Tuareg und Soldaten sich in Mali weiter Gefechte lieferten, just an diesem Wochenende wurde eine Waffenruhe vereinbart. Was aber kein Ende des Konflikts bedeutet. Man kann daran ganz gut sehen, dass Kino eben doch immer ein Symptom der Zeit ist, in der es gedreht wird: Wir leben in einer Ära, in der man alles wissen und alles sagen kann - aber an den Verhältnissen ändert das rein gar nichts. Nur küssen darf man immer noch nicht jeden.

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