Filmfestspiele Venedig:Tödliche Kombi aus Schweine- und Fledermausgrippe

Im größten aller Schreckensszenarien bedroht ein tödliches Virus die Welt, rafft Gwyneth Paltrow dahin - und bedroht einen von zwölf Erdbewohnern. Die Folge: Leichenberge, Kriegsrecht, Zusammenbruch der Zivilisation. In Steven Soderberghs neuem Film "Contagion" mit Kate Winslet, Matt Damon und Jude Law lauern furchtbare Gefahren. Überall. Auch auf der Herrentoilette. Und speziell in Venedig.

Tobias Kniebe

Wollte ein gelangweilter Gott ein tödliches neues Virus in die Welt setzen, Venedig im Spätsommer wäre kein schlechter Ausgangspunkt. Tausende Menschen aus aller Herren Länder, die sich auf engstem Raum zusammendrängen, dazu Hitze, Verfall, Feuchtigkeit. Und dann all die Flüge, Züge und Busse mit den Heimkehrern: im Handumdrehen wäre die Ansteckung rund um den Globus verbreitet. Thomas Mann wusste schon genau, warum mit der Novelle "Tod in Büsum" eher kein Blumentopf zu gewinnen war.

Chin Han, Marion Cotillard

Quarantäne, Straßensperren, Stau, Chaos: In seinem neuen Film "Contagion" verdichtet Steven Soderbergh eine tödliche Virus-Epidemie zum globalen Katastrophen-Wimmelbild, mit Stars wie Marion Cotillard (Mitte), Gwyneth Paltrow, Kate Winslet, Matt Damon und Jude Law.

(Foto: AP)

Steven Soderbergh wiederum weiß, dass sich nicht nur Viren rund um die Welt verbreiten wollen, sondern auch Filme. Ein paar tausend Zuschauer, am richtigen Ort angesteckt, Schreiber schreiben, Blogger bloggen, Heimkehrer wissen Dramatisches zu berichten. Und bald ist der ganze Planet von der Idee infiziert, dass man den Thriller "Contagion" unbedingt sehen muss. So die Idee: Man nennt das auch virales Marketing.

Bevor aber die Panik wirklich losgeht, hier noch ein paar letzte Botschaften: Die große Zeichnerin und Erzählerin Marjane Satrapi kann nicht nur wunderbare Animationsfilme gestalten, wie man seinerzeit an "Persepolis" gesehen hat, sondern auch echten Schauspielern und Landschaften einen magisch gezeichneten Touch verleihen. In "Poulet aux Prunes / Hühnchen mit Pflaumen" erzählt sie die alte Geschichte von der verlorenen Liebe und der großen Kunst, die daraus entstehen kann, durchgespielt am Schicksal eines existentiell verzweifelten Violinisten (Mathieu Amalric). Am Ende wartet der Tod, aber der wird hier mit sehr viel Humor begrüßt, in Gestalt des Todesengels Azrael zeigt er sich beinah als Publikumsliebling.

Um den Tod geht es dann auch im griechischen Beitrag "Alpis / Alpen" von Yorgos Lanthimos, genauer gesagt um eine seltsame Gruppe von Menschen, die in ihrer Freizeit Geld damit verdienen, für trauernde Angehörige eine gerade verstorbene Person darzustellen. Rund um Ariane Labed, die hier letztes Jahr für "Attenberg" schon die Coppa Volpi als beste Schauspielerin gewann, formiert sich da gerade ein neues griechisches Festivalkino. Es gibt sich, ähnlich wie Labed selbst, karg und geheimnisvoll und auf den ersten Blick recht abweisend - aber alles, was die Griechen in ihrer derzeitigen Lage nach vorne bringt, finden wir schon aus Prinzip gut.

Beim österreichischen Dokumentarfilmer Michael Glawogger wiederum geht es nicht um Tod, sondern um Sex - aber die Schicksale und Erzählungen der Huren in Thailand, Bangladesch und Mexiko, die er in seiner globalen Prostitutionsstudie "Whore's Glory" eingefangen hat, sind oft so traurig, dass der Unterschied nicht sehr groß ist. Als geduldiger Zuhörer und Beobachter der Frauen hat Glawogger erkennbar deren Vertrauen gewonnen - dann aber überschreitet er die Grenze zur offenen Inszenierung seiner Protagonisten sehr bewusst. Zu welchem Zweck? Will er seinen Zuschauern jeden Gedanken an bezahlten Sex austreiben, ähnlich wie Jonathan Safran Foer gerade der Jugend das Fleischessen abgewöhnt? Falls ja, dann leistet er hier ganze Arbeit. Die Frage ist nur, ob die Huren der Welt es ihm danken werden.

Üble Gesellen

All diese Überlegungen aber werden von anderen Ängsten verdrängt, sobald "Contagion" läuft. In den ersten Minuten erzeugt schon die Kameraführung höchste Alarmbereitschaft: Hier verweilt sie auf einer schniefenden Nase, dort auf gefährlich geröteten Augen, dann auf Haltegriffen und Aufzugknöpfen, weiterhin umkreist sie Hühnerkeulen auf dem Straßenmarkt, Reisetaschen, Aktenkoffer, Flugtickets.

Für gefährliche Filmschurken sind Viren ziemlich klein, man kann sie nicht einmal in High Definition erkennen. Und doch ahnt man, dass hier gerade ein paar üble Gesellen auf Weltreise gehen. Der Tod kommt dann auch furchtbar schnell: Ein paar Zuckungen, ein wenig Schaum auf den Lippen. Nach knapp fünf Minuten ist sogar Gwyneth Paltrow dahingerafft, die vorher noch so gesund vom Plakat herabblickte. Das muss sich auch ein Virus erst mal trauen.

Es handelt sich aber auch um ein Exemplar, das sie im Center for Desease Control in Atlanta einen motherfucker nennen: Eine nie gesehene Kombination aus Schweine- und Fledermausgrippe, Ursprungsort wahrscheinlich Macao, Ansteckungswahrscheinlichkeit einer von zwölf Erdbewohnern, Gegenmittel: keines. Es geht also um Leichenberge, um Kriegsrecht, um den Zusammenbruch der Zivilisation, nicht mehr und nicht weniger. "Contagion" erzählt das in mehreren Ländern, mit Dutzenden von Stars und Schauplätzen, von Armin Rohde und Marion Cotillard bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf bis zu Kate Winslet und Matt Damon am ersten Ausbruchsort in Minnesota.

Das ist aufregend und furchteinflößend in jeder Minute, und spätestens seit "Traffic" macht Soderbergh sowieso keiner mehr etwas vor, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge über Grenzen und Schicksale hinweg zum Wimmelbild zu verdichten. Die zentrale Entscheidung, die er mit seinem Autor Scott Z. Burns getroffen hat, ist allerdings angreifbar: Sie gehen in diesem größten aller Schreckensszenarien vom nahezu perfekten Funktionieren aller staatlichen Organisationen aus, die Offiziellen sagen fast immer die Wahrheit, und die Politik behält die Kontrolle. Wer soll das glauben? Und warum muss Jude Law als Verschwörungsblogger, der seine Zweifel an der offiziellen Version in die Welt herausschreit, dramaturgisch derart desavouiert und abgewatscht werden? Groß wäre der Film, wenn sein Szenario des Beinahe-Untergangs vollkommen glaubhaft wäre - so ist er eher groß angelegt.

Und doch: Kaum hat man das Kino verlassen, lauert plötzlich furchtbare Gefahr auf der Herrentoilette, halb überflutet wie sie ist. Und der Mann hinter der Bar, der gerade im Akkord Cappuccinos zapft, hat er sich wirklich an der Hand geschnitten, tropft da was in den Milchschaum? Die Kollegin, die vorne steht und den Überblick hat, behauptet es. Und sie grinst nicht einmal dabei.

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