Filmfestspiele Venedig eröffnet:Eine junge Frau muss locker lassen

Die letzten Reste von bürgerlichem Kunstdünkel sind abgetragen, alle sind total entspannt: Die 67. Filmfestspiele in Venedig sind eröffnet - experimentell wie nie.

Tobias Kniebe

Natürlich sollte man, kaum dass es losgegangen ist, nicht gleich zwanghaft nach einem übergreifenden Thema suchen. Das wäre ja wohl reichlich unlocker. Ganz nebenbei und lässig, Hand aufs Herz, hat sich auf der 67. Mostra Internationale d'Arte Cinematografica in Venedig aber doch bereits eine Art Grundmotiv ergeben, das man in Gedanken variieren kann. Es handelt sich um die Philosophie des Lockerlassens.

Kino

Die Rolle ihres Lebens? Natalie Portman, scharfgezeichnet wie nie, in dem Ballett-Thriller "Black Swan", dem Eröffnungsfilm.  

(Foto: Image.net/Festival)

In dieser Lebenskunst übt sich zuvorderst gleich einmal der Festivalchef selbst: Marco Müller hat bekanntgegeben, dass er seinen Vertrag als Leiter des Festivals, der Ende nächsten Jahres ausläuft, nicht verlängern wird - er möchte gern wieder selbst Filme produzieren. Im Vorgriff auf diesen Abschied macht er nun Programm wie einer, der nichts mehr zu verlieren hat: Experimenteller und weiter vom klassischen Kino entfernt sei seine Nebenreihe "Orizzonti" nie gewesen, kündigt er an - und auch, dass Gäste, Events und Wettbewerbsbeiträge in diesem Jahr nun mehr denn je seinem eigenen, schon immer eklektischen Geschmack entsprechen.

Eine Ahnung davon liefert bereits der Auftrieb zum Start: Da stehen zum Beispiel der Jurypräsident Quentin Tarantino und sein Kumpel Robert Rodriguez, der mit seiner Texmex-Racheorgie "Machete" das erste "Midnight Screening" bestreiten wird, auf dem Landungssteg der Fähre. Beide tragen seltsame schwarze, irgendwie mexikanisch aussehende Cowboyhüte.

Zugleich kommt gerade Natalie Portman an, der Star des Eröffungsfilms "Black Swan" mit ihrem Regisseur Darren Aronofsky, zum Wochenende wird Sofia Coppola erwartet, die einmal mit Tarantino zusammen war und deren neues Werk "Somewhere" er jetzt im Wettbewerb beurteilen muss - und so weiter. Passt alles irgendwie, und alle sind ganz entspannt. Auch Tom Tykwer, der gegen Ende mit seiner bisexuellen Liebesgeschichte "Drei" hier sein wird, die sich zwischen Sophie Rois, Sebastian Schipper und Devid Striesow abspielt, hat sich bei diesem neuen Werk womöglich so locker gemacht wie noch nie.

Dass dann auch zum Startabend noch der 70. Geburtstag der frühverstorbenen Kungfu-Legende Bruce Lee begangen wird, mit Andrew Laus aktueller Hommage "Fist of Fury", die auch zugleich eine Fortsetzung ist - das macht das Bild komplett: Eine große Familie aus allesfressenden Kinoliebhabern ist das hier, die letzten, verkrusteten Reste von bürgerlichem Kunstdünkel sind abgetragen, die Übergänge werden fließend. Dazu passt auch die von Marco Müller selbst errechnete Statistik, dass das Durchschnittsalter der Regisseure bei diesem Festival so niedrig ist wie noch nie.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Natalie Portman im Eröffnungsfilm so gut wie nie ist.

Die allesfressenden Kinoliebhaber

Und dann wird das Thema auch noch, interpunktiert von donnernden Tschaikowsky-Akkorden, im Eröffnungsfilm "Black Swan" selbst verhandelt. Da teilt Vincent Cassel, der einen charismatischen Ballettchef spielt, eine doch ziemlich bedenkenswerte Erkenntnis mit Natalie Portman, die bei der nächsten "Schwanensee"-Premiere seine Primaballerina werden könnte - oder auch nicht.

"Perfektion hat nicht nur damit zu tun, perfekt sein zu wollen. Es geht genauso ums Lockerlassen, darum, sich selbst zu überraschen. Nur so kann man das Publikum überwältigen." Anschließend küsst er sie hart, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, und sie beißt ihm vor Schreck in die Lippe.

Eine junge Frau muss lockerlassen. Und dabei vor allem ihre dunkle, auch sexuelle Seite entdecken, eben den schwarzen Schwan in sich - sonst wird sie nie eine komplette, wirklich gefeierte Künstlerin sein. Darum geht es hier - und wenn es je ein perfekte Rolle für Natalie Portman gab, dann diese hier.

Geradezu sardonisch zertrümmert Darren Aronofsky, der offenbar selbst ein Meistermanipulator ist, ihr Image als nettes Mädchen, als steife Sternenprinzessin, als stets kontrollierte Perfektionistin. Er quält sie und schindet wirklich ihren Körper, der noch nie so sehnig, so angegriffen, so scharfgezeichnet aussah wie hier. Zur Belohnung für ihn, aber vor allem für sich selbst, schenkt sie ihm eine Tour de Force, die ihre Karriere neu definieren wird. Da ist wirklich jede Nuance, jedes Augenflackern, jedes Lippenbeben, jeder knacksende Knöchel echt.

Nur die Horroreffekte, die diesen Kampf zwischen der dunklen und der braven Seite einer Frauenseele illustrieren, drängen sich vielleicht doch ein wenig zu sehr in den Vordergrund. Hämmern die Botschaft ins Hirn. Sind, man muss es wohl sagen, eher unlocker. So schrammt der Film unter Missachtung der eigenen Lehren vielleicht knapp daran vorbei, bleibende Größe zu entwickeln. Aber wer weiß? Die Zeit wird es zeigen.

Außerdem ist es noch ziemlich warm draußen, wir Kritiker müssen jetzt erstmal loslassen. Vielleicht bei ein paar Gläsern Wein. Denn wie sonst sollen wir unsere dunkle, gierige Seite kennenlernen - und am Ende wirklich komplette Schreiber werden?

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