Filmfestspiele Venedig:Ein Spion in Paris

76. Internationale Filmfestspiele Venedig - ´J'accuse"

„Ich klage an“: Émile Zolas offener Brief zur Dreyfus-Affäre im Film von Roman Polanski.

(Foto: Festival Venedig)

Das Festival von Venedig zeigt "J'accuse", den neuen Film von Roman Polański über die Dreyfus-Affäre sowie ein Biopic über Jean Seberg mit Kristen Stewart in der Hauptrolle.

Von Tobias Kniebe

Das Geräusch klingt hoch, schrill und klagend, und irgendwie klingt es auch nach Küste und Meer. Man kann es sich so ähnlich vorstellen wie Möwengeschrei, allerdings wäre es das Geschrei einer Möwe, die permanent schrecklich gefoltert und gequält wird. In einer Art Möwenhölle würde sie gefangen gehalten und immer wieder mit den Schwertern von Schwertfischen durchbohrt, ohne jemals sterben zu können. So hört sich das an, wenn man in einem Hotelzimmer in der Nähe der Vaporetto-Anlegestelle auf dem Lido wohnt. Von dort weht das Geräusch herüber, nach ein paar Tagen ist es schon sehr vertraut, und irgendwann beschließt man, nach der nächsten Filmrunde einmal seinem Ursprung nachzugehen.

Zunächst aber ruft Roman Polanski ins Kino zurück, der dieser Tage die Öffentlichkeit eher meidet und auch nicht selbst zum Festival kommt, aber weiter in Frankreich dreht und einen Film nach Italien schickt. Sein Ausschluss aus der Oscar-Academy im Vorjahr, aufgrund seines unvollendeten US-Prozesses wegen Sex mit Minderjährigen aus dem Jahr 1977, scheint seinen Arbeitswillen nicht zu beeinträchtigen. Sein neuer Film heißt "J'accuse" und ist eine beinahe detektivische Rekonstruktion der Dreyfus-Affäre, die Frankreich vom Jahr 1894 an schwer erschüttert hat, bis hin zu Émile Zolas berühmtem "Ich klage an"-Manifest. Ein deutscher Spion in Paris verrät Militärgeheimnisse, vorschnell wird Alfred Dreyfus, der einzige jüdische Offizier im Generalstab, verdächtigt und mit falschen Beweisen verurteilt.

Im Antisemitismus und in der Fremdenfeindlichkeit der Drahtzieher im Hintergrund sucht Polanski die Parallelen zur Gegenwart, sein Held ist aber einer, der gleich zugibt, dass er "die Juden" auch nicht mag. Georges Picquart (Jean Dujardin) steckt tief drin im korrupten Militär- und Spionageabwehrapparat, kann aber über die Fälschungen, einmal entdeckt, nicht mehr schweigen. Er wird einer der großen Whistleblower der Geschichte, und die Art, wie er hier gefeiert wird, suggeriert einen starken Glauben an Rechtsstaatlichkeit: Es kommt gar nicht darauf an, wen man mag oder nicht, es geht nur darum, die Lüge niemals Wahrheit zu nennen. Dann könnten die Übeltäter ausgesondert werden und die Institutionen gerettet. Dass Polanski seinen Prozess in den USA gern beenden würde, ist bekannt - aber wenn er die Botschaft seines Films wirklich glaubt, müsste er sich den amerikanischen Gerichten eigentlich persönlich stellen.

Die Jungs vom FBI hören am liebsten die Bettfedern knarzen, um tratschen zu können

Thematisch vom Festival geschickt zusammengestellt, läuft gleich danach "Seberg" von Benedict Andrews, eine Amazon-Produktion. Der Titel klingt ein wenig, als solle hier ein Kult um Jean Seberg betrieben werden, die amerikanische Schauspielerin, die mit ihrer blonden Kurzhaarfrisur und ihrem Herald-Tribune-T-Shirt in "Außer Atem" zur Galionsfigur der Pariser Nouvelle Vague wurde, ehe sie abseits der Leinwand in Bedrängnis geriet. Tatsächlich aber ist man dann schnell in einem anderen schmierigen Sumpf aus Spionage- und Radikalenabwehr, inklusive Hass, Manipulation und rassistischer Vorurteile, bei der großen Lauschangriff-Truppe des FBI, die am liebsten die Bettfedern knarzen hört und anonymen Rufmord betreibt. Jean Seberg (Kristen Stewart) unterstützt die Widerstandsbewegung der Black Panther Party mit Gesten, Statements und Geld, mit Hakim Jamal (Anthony Mackie), einem Aktivisten aus deren friedlicherem Umfeld, hat sie eine Affäre. All das verfolgt ein junger FBI-Agent namens Jack (Jack O'Connell) in abgedunkelten Kleinbussen, der erleben muss, wie seine Vorgesetzten das Material ausschlachten, mit Hilfe der Presse. Der Film zeigt den Preis, den die Opfer dieser Kampagnen zu bezahlen hatten, und wie schnell das sehr reale Gefühl, verfolgt und belauscht zu werden, in totale Paranoia mündet.

Auch hier regt sich das Gewissen, auch hier würde einer am liebsten zum Whistleblower werden, das Problem ist nur, dass es einen solchen Good Guy in Wirklichkeit leider nicht gab. So müssen die Filmemacher tricksen und ihre eigenen Spuren ähnlich verwischen wie das FBI. Was der reuige Jack unternimmt, um sein Zielobjekt zu retten, kann ja nicht in historischen Quellen dokumentiert sein - es bleibt bei obskuren telefonischen Warnungen und einem Geheimtreffen in einer Bar, wo Jack die Überwachungsakten mitbringt. Da wird der Film dann leider zum Kolportagestück, das Thema Whistleblower aber bleibt am Lido präsent - am Sonntag präsentiert Steven Soderbergh "The Laundromat" über die "Panama Papers".

Schließlich, zurück im immer noch sehr heißen Spätsommer von Venedig, steht man dann an der Anlegestelle für die Fähren von Alilaguna, die nach Murano fahren, nach San Marco und hinaus zum Flughafen. Dort kommt man hin, wenn man dem klagenden Schrei der schrecklich gefolterten Möwe folgt. Eine breite, beweglich montierte Metallplatte erlaubt es den Passagieren dort, bequem zum vorgelagerten, sehr verrosteten Ponton zu schreiten, der sich im Rhythmus der sanften Lagunenwellen ewig hebt und senkt. Und dabei, Metall auf Metall, entsteht der Soundeffekt. Einmal bewusst gehört, wird er nun für immer mit den Nächten von Venedig verbunden sein, zusammen mit dem Brummen von Schiffsdieseln und ein paar klangvollen italienischen Sprachfetzen.

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