Filmfestspiele Venedig:Die Haut des anderen

Johnny Depp als Gangster, Eddie Redmayne als Frau, Tilda Swinton als Rockstar: Neues aus Venedig.

Von Susan Vahabzadeh, Thomas Steinfeld

Der moderne Kinobetrieb hat beschlossen, dass keiner mehr oben auf der Leinwand bleiben darf. Wer ein Star sein will, muss gelegentlich hinuntersteigen, damit sich alle davon überzeugen können, dass er doch so klein und so zerbrechlich ist wie alle anderen auch.

Johnny Depp steigt nur ungern hinab, und seine Auftritte sind nur bedingt hilfreich dabei, seinen Ruhm zu befördern - man hat allerdings den Eindruck, wenn er da in Venedig vor versammelter Presse sitzt, dass er das auch gar nicht will. Er spricht schleppend, aber was er sagt, ist absolut klar - dass er beispielsweise lieber einer werden wollte wie John Barrymore und nicht der "Posterboy, den sie aus mir machen wollten". Fest steht, dass kaum ein anderer Schauspieler mit so viel spürbarem Enthusiasmus in die Haut eines anderen schlüpft. Und da liegt der Gedanke nah, dass Johnny Depp vielleicht gar nicht da war, sondern nur eine Kunstfigur, die er für öffentliche Auftritte geschaffen hat.

Er war natürlich hier, um einen Film zu bewerben - "Black Mass" von Scott Cooper, einen klassischen Gangsterfilm. Und da verschwindet er tatsächlich ganz und gar in seiner Figur. Man muss schon wissen, dass er es ist, um ihn in dem hageren, ältlichen Kerl mit den Geheimratsecken und dem eisblauen Blick zu erkennen. Dieser James Bulger ist sein bester Auftritt seit John Dillinger in Michael Manns "Public Enemies" von 2009. Wieder ein Gangster, nur war sein Dillinger charmant; James Bulger ist furchteinflößend.

Venedig will ja gern Startrampe für die Oscars sein - und Johnny Depp ist so gut wie lange nicht

Ich glaube nicht, sagt Depp, "dass irgendjemand morgens aufsteht, in den Spiegel schaut und sich sagt: Ich bin böse." James Bulger, der in den Siebziger- und Achtzigerjahren sein Unwesen in Boston trieb, hat sich wahrscheinlich auch eine Rechtfertigung zurechtgelegt für das, was er tat - unter anderem, dass er den lokalen Drogenmarkt ja nicht erfunden hat. Nur an sich gerissen. Er läuft durch sein Viertel in Boston und lässt seine Schläger den alten Damen die Einkäufe nach Hause tragen. Und wird nach und nach zum Drogenbaron. Nicht ganz aus eigener Kraft, denn es hat den Mann ja tatsächlich gegeben, und Regisseur Scott Cooper konzentriert sich ganz darauf, wie das kam: dank einer Methode, mit der auch die amerikanische Außenpolitik schon sehr schief gelegen hat. Ein kleiner Feind wird instrumentalisiert, um einen großen Feind zu bekämpfen und wächst sich in diesem Schutzraum zu einem Riesenfiesling aus.

Beim FBI hat Bulger einen alten Freund, (Joel Edgerton), der ihn als Informanten rekrutiert, und anfangs möglicherweise sogar selbst glaubt, das sei eine gute Idee im Kampf gegen die Mafia. Bulger gibt ihm kaum brauchbare Informationen, schließt aber in jede Lücke auf, die die Mafia freiräumt, mordet und verschanzt sich dabei hinter dem FBI.

Es will nicht viel Atmosphäre aufkommen in diesem Kostümstück, aber Depp ist großartig. So gab es dann auch gleich die ersten Prognosen, er werde vielleicht doch mal wieder für einen Oscar nominiert. Venedig will ja gern Startrampe sein für die Oscars. Oft stimmt das auch. Hi er liefen immerhin "Gravity" und "Birdman", die letzes und vorletzes Jahr dort abräumten.

Für den Darstellerpreis in Venedig kommt er nicht infrage, "Black Mass" läuft außer Konkurrenz - der Favorit dafür dürfte Eddie Redmayne sein, der gerade einen Oscar bekommen hat für "Die Entdeckung der Unendlichkeit", und der mit seinem Auftritt in "The Danish Girl" von Tom Hooper, dem Regisseur von "The King's Speech", auch bei den nächsten Oscars wieder mitmischen dürfte.

Der junge Maler Einar (Eddie Redmayne) versteckt sich in "The Danish Girl" auch hinter einer Kunstfigur vor den Menschen, die ihn unsicher machen - und entdeckt dann, dass diese Kunstfigur er selbst ist. Die Geschichte beginnt 1926, Einar und seine Frau Gerda (Alicia Vikander) sind ein fröhlich verlottertes Malerpaar in Kopenhagen. In aller Unschuld lässt sie ihn für eines ihrer Porträts Seidenstrümpfe und Satinpantöffelchen tragen - sie ist in Verzug, und das eigentliche Modell hat keine Zeit. Es wird ein Spiel draus. Einar tritt als seine eigene Cousine Lilli auf, um seine Frau zu Künstlertreffen zu begleiten, bei denen er sich eigentlich nicht wohlfühlt - und Gerda malt Lilli und hat damit mehr und mehr Erfolg.

Black Mass Szenenfoto mit Johnny Depp

Man muss schon genau hinsehen, um Johnny Depp hinter der Figur des Gangsters James Bulger zu erkennen, den er mit virtuoser Bedrohlichkeit spielt.

(Foto: Warner Brothers)

Der Roman, den Hooper verfilmt, orientiert sich sehr lose an der realen Geschichte der ersten Geschlechtsumwandlung. Die ist am Ende der einzige Ausweg, den Lilli noch sieht, die nicht sie selbst sein darf, Gerda liebt und doch nicht mehr mit ihr leben kann. Am Ende geht die Melodramatik zwar mit Hooper durch - aber "The Danish Girl" ist trotzdem ein schöner, rührender Film darüber, dass man Menschen nicht verbiegen soll.

Die Zukunftsfaschisten kriegen nicht einmal den Überwachungsstaat von 2015 hin

Auch die Helden in Drake Doremus' Science-Fiction "Equals" sind in ihren Körpern gefangen. Sie leben in einer Zukunft, in der alle Menschen normiert sind, und bei manchen schlägt die Natur durch. Silas (Nicholas Hoult) arbeitet in einem Forscherteam, bei dem man nie so richtig erfährt, was da eigentlich erforscht wird.

Im Kollektiv ist alles steril und technisiert, es gibt nur drei Uniformen, Hängebrücken über künstlichen Wäldern, Glastürme. Silas beobachtet an sich die Symptome der schlimmsten Krankheit, die es hier noch gibt: Man hat den Menschen die Emotionen weggezüchtet, und bei manchen brechen sie doch wieder durch. Silas hat plötzlich Angst, Mitleid, Freude am Essen. Er bekommt dann Medikamente.

Da ist jedoch eine Autorin in seinem Team, Nia (Kristen Stewart), von der er glaubt, dass auch sie Gefühle hat. Die beiden verlieben sich tatsächlich ineinander, aber Kontakt, Berührung oder gar Sex sind hier streng verboten. Wer sich so sehr seinen Gefühlen hingibt, wird in eine Klinik gesteckt und in den Selbstmord getrieben. Nia und Silas werden hier zu Romeo und Julia undercover, was gar nicht so schwierig ist, denn in diesem merkwürdigen Land ist mit den Emotionen auch gleich die Logik über Bord gegangen.

Eine Schreckensvision, allerdings eine, die kaum je die Wirklichkeit berührt - weder ein Sexverbot noch eine Kontaktsperre sind realistische Bedrohungsszenarien. Einstweilen sieht es nicht so aus, als ob uns ein totalitärer Staat die Kommunikation verbietet; das tun wir uns selbst an. Ach, überhaupt: "Equals" ist voller Löcher und brüchiger Konstruktionen. Doremus' technisch hochgerüstete Zukunftsfaschisten bekommen nicht einmal den Überwachungsstandard von 2015 hin - und das ist dann eher lächerlich.

Die Oper ist das Genre des Unwahrscheinlichen. Die wildesten Verwechslungen, die unglaublichsten Geschichten, die strengsten, unerbittlichsten Schicksale, die sich in weniger als drei Stunden vollziehen: Das alles erscheint als höchste Kunst, sobald es singend und mit Orchesterbegleitung vorgetragen wird. So groß ist die Kraft dieser ästhetischen Form, dass sie nicht wenige Werke hervorbrachte, die geeignet sind, sich an die Stelle des Lebens zu setzen - mit unter Umständen erheblichen Folgen für das in der Oper engagierte Personal, als da wären: Selbstbesessenheit, der radikale Wille zur Inszenierung, Nervenzusammenbrüche, Ausschweifungen aller Art und meist mit schlechtem Ausgang. Umgekehrt lassen sich am Personal auch diesseits der Oper einige Eigenarten dieses Genres erkennen (der amerikanische Kulturhistoriker Wayne Koestenbaum hat 1993 ein Buch mit dem Titel "The Queen's Throat" darüber geschrieben).

Eine solche Umkehrung hat sich der französische Regisseur Xavier Giannoli zu eigen gemacht. Seiner Heldin, einer reichen Adligen mit Namen Marguerite, fehlen zwar die elementaren musikalischen Voraussetzungen zur Diva: Ihr Gesang ist von einer Art, die in einem fernen gallischen Dorf regelmäßig zur Knebelung des Barden Troubadix führt. Aber ihre Liebe zur Oper ist ebenso unbedingt wie der Wunsch, darin als Primadonna aufzutreten. Zunächst sind die Konsequenzen überschaubar, weil sich ihre Auftritte aufLiebhaberkonzerte vor geschlossenem Publikum beschränken. Aber bald sorgt ein dadaistisch inspirierter Journalist dafür, dass die von Marguerite unwillentlich betriebene Zerstörung eines klassischen Genres die Öffentlichkeit erreicht, und dann gibt es kein Halten mehr. Und weil sich zur rechten Zeit auch noch ein paar komplementäre Unglücksraben einfinden, geht die Geschichte in fünf Kapiteln ihrem notwendigen Ende zu: Oper und Selbsterkenntnis gehen nicht gut zusammen.

Ein großer Teil der ästhetischen Kraft der Oper zog in den Rock 'n' Roll ein

Der Film "Marguerite" ist eine exakt inszenierte Parabel nach einem historischen Vorbild, verlegt in das Paris der Zwanziger. Wenn sie komisch ist (und das ist sie), enthält sie doch stets genügend Grausamkeit, um ihre Heldin nicht zu einer lächerlichen Figur zu machen, und wenn sie melodramatisch ist (das ist sie auch), steckt ausreichend Slapstick darin, um die Rührung in Grenzen zu halten. Vor allem aber gelingt dem Regisseur und seinen beiden wichtigsten Schauspielern - Catherine Frot in der Rolle der Marguerite, André Marcon als ihr Gatte - die Ausgestaltung jenes Wahns vom großen Singen in einer Weise, dass der Zuschauer bald mit den Nebenfiguren dieser Geschichte die Offenbarung fürchtet. Der Vorhang darf nicht fallen, aber er fällt selbstverständlich doch.

Nach dem Ende der großen Oper im frühen zwanzigsten Jahrhundert ging ein großer Teil ihrer ästhetischen Kraft auf die populäre Musik über und zog schließlich in den Rock 'n' Roll ein, mitsamt Divenwesen, Inszenierungsfuror und Selbstentblößungen aller Art. Marianne Lane, ein von Tilda Swinton gespielter Rockstar, ist in Luca Guadagninos Film "A Bigger Splash" zwar der leibhaftige Vorbehalt gegen die entsprechende Verwechslung von Kunst und Leben - bis dahin, dass sie nach einer Kehlkopfoperation bis auf Weiteres nicht mehr sprechen, geschweige denn singen kann und sich mit ihrem Liebhaber auf eine scheinbar abgelegene italienische Insel zurückzieht.

Die Reserve fällt in sich zusammen, als ein früherer Liebhaber und Schallplattenproduzent in die Idylle einbricht, ein unerträglicher Dauerschwätzer ohne jede Fähigkeit zur sozialen Distanz, der das Leben für eine von Grund auf obszöne Veranstaltung hält, bei der man auf angemessenem Niveau mithalten muss. Weil er zudem über ein Luder von Tochter verfügt und der ganze Film ein Remake von Jacques Derays Film "Der Swimmingpool" (1969) ist, kann auch diese Geschichte nur böse ausgehen. Aber er tut es ohne Erschütterung und Geheimnis: Allein Tilda Swinton gelingt es, eine Zweideutigkeit aufrechtzuhalten, wie sie Romy Schneider einst selbstverständlich besaß. Der Rest ist hauptsächlich Rock 'n' Roll.

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