Süddeutsche Zeitung

Filmfestspiele Venedig:Die Ballade vom verlorenen Erzähler

Erstaunlich lebendig, erstaunlich gut sortiert: Die Filmfestspiele finden in Alfonso Cuarons "Roma" einen würdigen Empfänger des Goldenen Löwen.

Von Susan Vahabzadeh und Thomas Steinfeld

Es gibt ein beliebtes Spiel unter Festivalbesuchern: Wer sollte gewinnen und wer wird gewinnen? Das ist normalerweise nicht dasselbe. Die Favoriten der Kritiker, des Publikums und der Jury - das können ganz unterschiedliche Gruppen von Filmen sein. Bei den 75. Filmfestspielen von Venedig sind lauter Favoriten ausgezeichnet worden - das lag vielleicht zum Teil daran, dass Guillermo del Torro, der hier im vergangenen Jahr seinen späteren Oscar-Sieger "The Shape of Water" vorgestellt hat, sich als weiser Jurypräsident erwiesen hat. Es liegt vielleicht auch daran, dass die Dichte von Filmen, an die man sich auch noch in Jahren erinnern wird, ungewöhnlich hoch war.

"Roma" hat den Goldenen Löwen gewonnen, dieses sehr persönliche Werk des Mexikaners Alfonso Cuaron ("Gravity"), in dem er in schwarz-weißen Erinnerungen an sein Kindermädchen schwelgt und an den Zusammenhalt einer vaterlosen Familie gegen jede soziale Konvention - das ist ein würdiger Sieger, großartig gefilmt von einem Regisseur, der über jede Sekunde seines Films die absolute Kontrolle zu haben scheint. Die Darstellerpreise für Willem Dafoe, der van Gogh spielt in Julian Schnabels "At Eternity's Gate", und Olivia Colman, die eine hinreißend verletzlich-monströse Queen Anne spielt in "The Favourite" von Yorgos Lanthimos, haben beide, auf ganz unterschiedliche Art, aber mit ganz herausragenden, besonderen Leistungen ihre Filme getragen. Und da ist es nur richtig, dass sie beide die Darstellerpreise gewonnen haben. "The Favourite" bekam zusätzlich den Silbernen Löwen. Den Preis der Jury bekam Jennifer Kent für ihren brutalen Kraftakt "The Nightingale", bei der sich eine Irin und ein Aborigine im Jahr 1925 in einer britischen Strafkolonie durchschlagen. Jacques Audiard hat für seinen herrlich komisch-melancholischen Western "The Sisters Brothers" einen Regiepreis bekommen, die Coens wurden für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Wer will daran ernstlich herummäkeln?

Es lässt sich jedoch an diesem Filmen insgesamt beobachten, dass es wenig Vertrauen in Fiktionen gibt. Fast alles, von "22 July" (Utoya) bis zum deutschen Wettbewerbsbeitrag "Werk ohne Autor" folgt, mehr oder weniger treu, einer wahren Geschichte. Die beiden Western, "The Sisters Brothers" und "The Ballad of Buster Scruggs", bilden da beinahe eine Ausnahme, auch weil sich in beiden Filmen eine allegorische Konstruktion verbirgt: Die Coen-Brüder haben, so scheint es, versucht, Walter Benjamins alte These vom "epischen Gedächtnis" für den Film zu reklamieren, und zwar so gründlich, dass ihr Film aus lauter Gedankenexperimenten zum Erzählen besteht. Und nicht minder thetisch ist, im Verborgenen, Jacques Audiards Film, der ja eigentlich von zwei Brüderpaaren handelt: Zwei stumpfe, grobe Gesellen treffen auf zwei feine, intellektuelle Gestalten, und selbstverständlich verlieren die Geistmenschen.

Der Film der Coens sollte ursprünglich eine Serie auf Netflix werden, nun ist "Buster Scruggs" ein Film - und Netflix hat sich entschieden, ihn im Kino zu zeigen. So ist es auch für den außer Konkurrenz gezeigten letzten Film von Orson Welles, "The Other Side of the Wind" geplant, für die Amazon-Produktion "Suspiria", die im Wettbewerb lief, und für den ersten Festivalsieger, für den sie sich nun bei Netflix eine Kerbe in den Rechner hauen dürfen. Netflix, so sah es jahrelang aus, würde das Kino zerstören - schließlich ist es ja das Geschäftsmodell des Streaming-Dienstes, aus Filmen sogenanntes Home-Entertainment zu machen. Das heißt: Auch ein Film wie "Roma" soll eigentlich seinen ganz großen Auftritt als Streaming auf dem Fernseher oder gar Computer haben, zuhause, nicht auf der großen Leinwand eines Filmtheaters. Nun wissen die Leute bei Netflix, die "Roma" produziert haben, selbst gut genug, dass ein solcher Film erst auf einer Leinwand so aussieht, wie Cuaron ihn gemeint hat. Es könnte sein, dass Netflix einfach mit ins Kinogeschäft einsteigt.

Aber auch das könnte gefährlich werden für die Filmindustrie, denn die Bedingungen sind ja völlig unterschiedlich - auch wenn Netflix und Amazon einfach zu zwei weiteren Filmstudios werden, verdienen sie ihr Geld anderswo. Und die Festival-Einreichungen sind da nur Prestigeobjekte, wenn sie sich nicht rechnen, macht das nichts. Das kann Konsequenzen für den Rest der Filmbranche haben. Es verdirbt die Preise. Schon jetzt klagen Verleiher, dass die Gewinne, die mit Filmen erzielt werden, zwar sinken, die Rechte aber immer teurer werden. Wer sein Geld tatsächlich mit Kino verdient, kann sich das nicht leisten. Es ist nicht im Sinne der Filmemacher, dass es solche Vertriebsriesen gibt, die sich alles Untertan gemacht haben.

Solchen Entwicklungen im Filmgewerbe sind ähnliche Entwicklungen auf dem Buchmarkt vorausgegangen, und vielleicht haben die Organisatoren der Festspiele auch deshalb Olivier Assayas' Film "Doubles vies (Non-Fiction)" in den Wettbewerb aufgenommen. Darin geht es nicht nur um das in Paris offenbar übliche Kuddelmuddel der erotischen Beziehungen, sondern auch um eine Verlagsbranche im Umbruch: Zuerst kündigt sich eine komplette Digitalisierung des gesamten Gewerbes an. Dann wird deutlich, dass E-Book, Blogs und "soziale Medien" allenfalls neben die klassischen Techniken von Produktion und Vertrieb treten, sie aber keinesfalls ersetzen werden. Es gibt kein Nacheinander der medialen Formen, sondern allenfalls eine Erweiterung der Möglichkeiten.

Obwohl die Filmtheaterbetreiber in Italien ebenso dagegen protestieren wie ihre französischen Kollegen, hat der künstlerische Direktor von Venedig die Tür offen gelassen für Netflix und Amazon, die in Cannes in diesem Jahr nicht hineingelassen wurden. Das ist einer der Bausteine, die Venedig zu einem solch zentralen Festival gemacht haben. Venedig ist wichtig für die Oscars, also will jeder aus Hollywood dabei sein; und dann wollen alle anderen auch mitmachen. Die größte Kontroverse in diesem Jahr hat sich Barbera selbst eingebrockt, in dem er den Wettbewerb zwar auf 21 Filme aufstockte, "The Nightingale" aber als einziger von einer Frau gedreht wurde - und darauf angesprochen, reagierte Barbera aggressiv. Er wolle keine Rücksicht darauf nehmen müssen, ob ein Film von einer Frau ist.

Dazu gibt es zweierlei zu sagen: Es war zwar ein guter Wettbewerb, aber die Dichte an cineastischen Bluträuschen war dann auch recht hoch; mehr Diversität, was die Themen, Machart, den Blick dieser Filme auf die Welt betrifft, hätte dem Wettbewerb nun wirklich nicht geschadet. Und zweitens: Wird ansonsten beim Programm keinerlei Rücksicht genommen? Kommen die Tiefpunkte, die dieses Festival hatte, auch wenn es wenige waren, nicht genau so zustande? Am Ende, wenn schon sehr viele Besucher nach Toronto aufgebrochen sind, waren jedenfalls kaum noch Highlights zu sehen; und ganz sicher könnte es sich kein Venedig-Chef leisten, einen Wettbewerb zu gestalten, in dem nicht ein paar italienische Filmemacher vertreten sind.

Und so kam es zum Ende des Wettbewerbs zu einigen Fehlschlägen, auf die man, während das Fachpublikum deutlich schwand, auch selber gern verzichtet hätte: Der eine war die "Capri-Revolution" von Mario Martone, ein Potpourri der Klischees, eine Insel im Golf von Neapel betreffend, in der sich der symbolistische Maler Karl Wilhelm Diefenbach, einer der Begründer der Lebensreform, mit Joseph Beuys mischen muss, um dann, mit so vereinten Kräften, der Macht der Naturwissenschaften wie des Nationalismus entgegenzustehen. Der andere miserable Fall war der Film "Zan" ("Töten") des japanischen Regisseurs Shinya Tskukamato, der tatsächlich enthält, was der Titel ankündigt, nämlich einen Grundkurs im Töten. Wozu der gut sein soll, wird leider nicht deutlich.

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Quelle:
SZ vom 10.09.2018
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