65. Filmfestspiele in Venedig:Durchatmen für die Bombenentschärfer

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Alles eine Kunst der Respiration: Das Ende des Wettbewerbs bringt raue amerikanische Helden, bei Kathryn Bigelow und Darren Aronofsky.

F. Göttler

Zum Schluss kam dann der Blues ins Festival. Eine der Musikformen, die dem Kino besonders nahe sind, die andere, das Divertimento, war Mitte der Woche dran gewesen, in Vardas unvergleichlich schönem "Les plages d'Agnès".

Getarnt in feindlicher Umwelt: Ein westlicher Bombenspezialist in der irakischen Wüste, in Kathryn Bigelows "The Hurt Locker" (Foto: Foto: First Light Production)

Und ein Schuss Countrymusik bei Jonathan Demme - "Kraft meiner Vollmacht, die mir vom Staat Connecticut verliehen wurde, und von Neil Young, erkläre ich euch ..."

Der Blues, das war der von Explosionen und Vertrauensverlust durchsetzte Alltag im Irak-Krieg in Kathryn Bigelows "The Hurt Locker", oder die Faszination des Ringkampfs in Darren Aronofskys "The Wrestler".

Und die Schrecken eines Brandunfalls in der Firma ThyssenKrupp in Turin, dem zwei italienische Filme sich widmeten.

Der Blues, das waren auch Mickey Rourke und Jeremy Renner in den amerikanischen Filmen. Ja, zum Festivalende sind die ersehnten Stars wieder da, ein anderer Typus, nicht die Strahlemänner Clooney und Brad Pitt. Renner und Rourke sind härter, prollhafter, bodenständiger - Tilda Swinton, die neben Clooney und Pitt etwas in der Versenkung verschwand, hätte gut zu ihnen gepasst.

Delirieren, mit allen Tricks und Phantasmen

Die Italiener lieferten dann noch Adriano Celentano dazu, den zeitlosen Reibeisen-Rebellen, sein Meisterwerk "Yuppi Du" von 1975 wurde in einer restaurierten Fassung präsentiert.

Es war nach Fellinis "Der weiße Scheich" und De Sicas "Fahrraddiebe" die dritte Klassiker-Restauration des Festivals. "Yuppi Du" ist, von Celentano koinszeniert, eine unverschämte Ode an Venedig und seine Underdogs, natürlich ans Kino.

Für den Gondoliere Felice (verkörpert von Celentano) bietet die Lagunenstadt eher Unannehmliches, das fängt damit an, dass sein Ehebett meistens von Wasser bedroht ist. Es ist die zweite Frau, mit der sich dort tummelt, die erste - Charlotte Rampling - hat einen Wassertod fingiert und ist mit einem Millionär nach Mailand.

Als sie zurückkehrt, beginnt der Film endgültig zu delirieren, mit allen Tricks und Phantasmen, die heute Standardrepertoire der Clips sind. Das Loch im Fenster störe sie aber schon, sagt die heimgekehrte Frau, aber Felice erklärt ihr, das sei Resultat eines künstlerischen Exzesses - wie bei den Malern, die einen Farbtopf durchs Zimmer werfen, und wenn Farbe daraus die Leinwand trifft, bekommen sie eine Ausstellung im Museum.

Die neue Ladung amerikanischer Filme, von Demme, Bigelow, Aronofsky, sind wahre Independents - ein neuer Typus, mit Studiogeld gedreht, von Sony und Warner.

Kathryn Bigelows "Hurt Locker" ist eine willkommene Abwechslung im Irak-Kriegsgenre, das im Vorjahr Brian De Palmas "Redacted" erfolgreich bestückt hatte.

Schluss mit der Misere, mit der Tristesse, die der Krieg inzwischen auch in den USA verbreitet. Bigelow, die in ihrer Regie nie das working-class girl verleugnete, ist auf der Seite der einfachen Soldaten, der Jungs der EOD, der "Explosive Ordinance Disposal", die in der Hitze der Gefechte Bomben in Autos oder an Selbstmordattentätern, die sich anders besonnen haben, entschärfen.

Jeremy Renner ist ihr Held, der gern den Schutzanzug abstreift, um ganz frei mit den Drähten und Explosivkörpern umzugehen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum die Furcht nach Meinung Kathryn Bigelows einen zu schlechten Ruf hat.

Renner hat in zahlreichen Teamfilmen mitgemacht, von "S.W.A.T." bis "28 Tage später", und auf der Leinwand den Massenmörder Jeffrey Dahmer verkörpert.

Bei aller Hektik, bei aller Hysterie der nervenzerfetzenden Einsätze wird die Arbeit der Einheit im Verlauf des Films immer ruhiger, immer normaler - Bigelow setzt da ihre Studie des Heldentums fort, die sie mit "K 19 - The Widowmaker", über ein verstrahltes russisches U-Boot, begann.

Eine der aufregendsten Sequenzen zeigt, wie ein Trupp in einen Hinterhalt gerät und langsam und mühsam die Situation klärt: Die gegnerischen Scharfschützen ausfindig machen, drüben im Haus auf dem Hügel, einen nach dem andern gezielt erledigen, dann weiter geduldig beobachten, so lange, bis sicher ist, dass wirklich alle tot sind.

Alles eine Frage des richtigen Durchatmens, eine Kunst der Respiration. Dazwischen ein Schluck Orangensaft aus der Tüte, auch das ist mühsam, den Strohhalm einzustechen.

"Furcht hat einen schlechten Ruf", sagt Bigelow, "zu Unrecht. Furcht klärt. Sie zwingt dich, die wichtigen Dinge zuerst zu setzen und die trivialen auszumustern."

Um Tod und Arbeit geht es auch in "La fabbrica dei tedeschi" von Mimmo Calopresti, einem dramatischen Politdokumentarfilm, und "ThyssenKrupp Blues" von Pietro Balla und Monica Repetto.

Beide liefen in der Reihe "Orizzonti", die sich so extreme Sachen leistet wie einen merkwürdigen Valentinofilm - über den Mode-, nicht den Filmstar - und die komplette "Melancholia" des philippinischen Junggenies Lav Diaz.

Sehnsucht nach dem Arbeitsplatz

Das Stahlwerk der Firma in Turin wurde im Frühjahr 2007 geschlossen, die Arbeiter wurden entlassen. Im Herbst hat man einen Teil von ihnen wieder eingestellt, um noch ein paar Monate weiterzumachen - in den inzwischen halb leergeräumten, sicherheitstechnisch verwahrlosten Hallen.

Am 6. Dezember brach ein Feuer aus beim Abfluss des glühenden Stahls, Arbeiter verwandelten sich in lebende Fackeln, sieben starben. Ein Massaker, hieß es in den Zeitungen. Der "ThyssenKrupp Blues" beschreibt das Schicksal des jungen Entlassenen Carlo Marrapodi, der seine soziale Sicherheit verliert und seinen gesellschaftlichen Status, in die Heimat zurück muss, nach Kalabrien, und, von Lethargie bedroht, das Trauma um die toten Kollegen bewältigen muss. Nur noch im Protest gegen die Machenschaften der Firma findet er einen Rest von Lebenskraft.

Sehnsucht nach seinem Arbeitsplatz hat auch Mickey Rourke in "The Wrestler". Darren Aronofsky verzichtet hier auf seine optischen und intellektuellen Spiralen, die "The Fountain" dröge machten, er geht zurück nach Amerika, heute und ganz unten.

Mickey Rourke ist der Ringer Randy "the Ram" Robinson, seit Jahren erfolgreich in einem Schaugeschäft, wo das Zusammen- und Gegeneinanderspielen eins ist. Die Männer arbeiten mit Leitern und Stacheldraht im Ring, sie reißen sich das Fleisch auf und sind bester Laune dabei.

Rourke ist ein Veteran, und er kann alles in diesem Film. Er trägt eine lange blonde Mähne, die er sorgsam stylen lässt, er nörgelt, dass Figuren wie die "Cobain-Pussy" den guten alten Rock'n'Roll kaputtmachten, er tänzelt als Verkaufsclown die Fleischtheke im Supermarkt entlang. Und er führt seine Tochter aus, Evan Rachel Wood, in die eigene Vergangenheit. In ein altes, leeres, verwittertes Casino am Meer. Dort, in einem riesigen Ballsaal, wagen sie endlich einen gemeinsamen Tanz. Und Mickey Rourke darf, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, sein Mädel führen.

© SZ vom 06.09.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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