65. Filmfestspiele in Venedig:Betörende Bilder des Krieges

Für ein A-Festival sind zwei Animationsfilme im Wettbewerb ein Novum: Nach "Ponyo" war bei der 65. Mostra nun "The Sky Crawlers" zu sehen, der vielleicht ultimative Fliegerfilm.

F. Göttler

Wo der feste Boden unter den Füßen endet, heißt es immer und überall, da fängt das Kino an. Die schönsten Filme siedeln also am Wasser, an Flussufern die von Jean Renoir, in Frankreich und in Indien, am Mississippi die von John Ford, auf dem Mekong Coppolas "Apocalypse Now".

65. Filmfestspiele in Venedig: Beschwörung des Krieges: "The Sky Crawlers" im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals in Venedig.

Beschwörung des Krieges: "The Sky Crawlers" im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals in Venedig.

(Foto: Foto: Warner Bros.)

Auf den Atlantik und auf das Mittelmeer hat Agnès Varda ihre Filme und ihr Leben ausgerichtet, und auch ihr Mann, Jacques Demy, der von Kindheit an durch die Hafenstädte Nantes und Cherbourg streifte und machte, dass auch wir, in seinen Filmen, uns dort heimisch fühlen mochten.

"Les plages d'Agnès" heißt der Film, den Varda nun in Venedig vorstellte, und natürlich könnte es keinen besseren Ort dafür geben als diese Stadt, die mit ihrer reichen Geschichte alle Aspekte von Strand und Meer durchspielt.

Die Strände ihres Lebens hat Agnès Varda in ihrem Film gesammelt und wieder aufgesucht, von Sète, wo sie ihren ersten Film drehte, 1954, "La Pointe Courte", bis zur Insel Noirmoutier, wo sie lange lebte mit Demy.

Angenehm surrealistische Strände

Der Strand von Noirmoutier, das ist der wichtigste von allen, hier sitzt am 17.Oktober 1990 ein zarter, müder Mann zurückgelehnt, er lässt ein wenig Sand durch die Finger rieseln und schaut aufs Meer.

Es ist Jacques Demy, von seiner Krankheit schon gezeichnet, den Varda filmte für ihren Erinnerungsfilm "Jacquot de Nantes". Wenige Tage später ist Demy dann gestorben, doch seinen Blick, der nochmal alles in sich aufzunehmen versuchte, hat der Kinematograph uns aufbewahrt.

Varda präsentiert ihre Strände nicht poetisch, erinnerungsverklärt, sondern angenehm surrealistisch.

Gleich am Anfang kommt einem Magritte in den Sinn, da lässt sie ein Dutzend Spiegel herbeischleppen und versetzt zueinander im Sand aufbauen, in denen dann die Unendlichkeit des Meeres vielfach gebrochen werden kann.

Danach lässt sie die Freunde und Mitarbeiter in diese Spiegel schauen, nicht um ihr Bild dort zu entdecken, sondern - die Kamera. Das ist sehr charmant und spielerisch, aber auch unerwartet und irgendwie erschreckend.

Es geht hier um die Filme, die Varda und ihr Mann Demy machten, es geht um politisches Engagement und um die Familie, und es geht um die Krankheit und den Tod von Demy.

Mit der technischen Reproduzierbarkeit und dem Kino im Besonderen hat die Wahrnehmung ihre Unschuld zwar nicht verloren, aber ihre Bedeutung wurde verändert.

Atemloses Spiel mit der Form

Varda gibt den Objekten allen einen doppelten Rahmen, bevor sie ins Sentimentale abgleiten könnten, der Film ist ein atemloses Spiel mit der Form. Sie selber würde am liebsten mit einem roten Schal vorm Gesicht vor der Kamera erscheinen.

Das Kleinbürgerliche und das Exotische sind in Vardas Bildern und Filmen immer gleichzeitig vertreten, und in denen von Demy auch.

Catherine Deneuve in den "Regenschirmen von Cherbourg", das ist ein armes kleines Provinzmädchen, aber schon ist der Weltstar, das Glamourwesen zu ahnen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum Cesare Zavattini für seinen Beitrag "I Misteri di Roma" erbarmungslos Liebespaare auf den nächtlichen Straßen Roms aufspürte.

Betörende Bilder des Krieges

Sandrine Bonnaire in "Sans toit ni loi" ein heruntergekommener Tramp, aber schon "si belle, si rebelle, sans cause", durch den Zauberstab des Kinos. Die Jahre dürfen in diesem Film in Sekunden Revue passieren, und das Kino ist in seinem Element.

Die andere Unendlichkeit der menschlichen Existenz feiert "The Sky Crawlers" von Mamoru Oshii, dem Meister der "Ghost in the Shell"-Filme.

Der zweite Animationsfilm war "Ponyo", ein Novum für ein A-Festival. Ein Fliegerfilm, vielleicht der ultimative Fliegerfilm, weil er das Genre auf den Kopf stellt.

Ein paar Kids sind auf einem einsamen Stützpunkt, der an den Zweiten Weltkrieg erinnert, mit den Ritualen des Luftkriegs beschäftigt. Leere Rituale, zu Showzwecken, in denen eine befriedete Gesellschaft sich daran erinnern lässt, was der Krieg einst bedeutete.

Erinnerung an Bogart und Bacall

In unendlich betörenden Bildern beschwört der Film diesen Krieg, die Pirouetten der Maschinen, die wartenden Blicke der Zurückgebliebenen, die abendlichen Feste im Kasino, die unbeantworteten Fragen nach der eigenen Herkunft, der Aufgabe, des Lebenssinns.

Ein junges Paar spielt das Zigarettenrauchen und -anzünden so verwegen und aufregend, dass es an Bogart und Bacall erinnert in "To Have and Have Not". Der Fliegerfilm steht nach "The Sky Crawlers" als Mitbegründer des Existentialismus da und als Fremdkörper im amerikanischen Actionkino.

Wo alles Fatalität ist und Fatalismus, kann nicht wirklich was passieren. Ein Hawks-Film, der am Ende wie purer Antonioni aussieht. Man muss nur die Straßenseite wechseln, räsoniert der junge Held am Ende, und wird doch immer wieder eine Menge Neues entdecken. Den Satz hätte man auch bei Varda hören können.

Dreißig Jahre italienisches Kino feierte die Reihe "Questi Fantasmi", mit wenig bekannten Filmen, statt Dino Risi und Vittorio De Sica gab es Bonnard, Baldi und Biagi.

Die italienische Presse fand's extrem provinziell, immer noch auf die stilbildenden Meisterwerke orientiert. Man sieht aber in diesen Filmen, wie stark das italienische Kino noch in den Fünfzigern vom Neorealismus geprägt ist.

Mit einem der schönsten Filme, "I Misteri di Roma", hat Cesare Zavattini einen Dokumentarfilm versucht, unterstützt von einem Dutzend Regisseuren. Das spielerische Potential ist groß, es gibt Besuche bei Arbeitern, Prostituierten, bei einer Priesterin, die Kommunion austeilt und den Segen spendiert.

Zavattini träumte davon, das Kino seiner Landsleute mit dem von Dziga Vertov und Walter Ruttmann zu verbinden. Einmal zieht das Team mit einem riesigen Scheinwerferwagen durch die nächtliche Stadt, einem Panzer gleich, er jagt erbarmungslos Liebespaare auf, und wenn der Blick über die Fontana Trevi gleitet, dann vermischen die Schatten des Teams sich mit den antiken Figuren.

Am Ende gibt es eine zögerliche Begegnung mit einer Familie im morgendlichen Rom, das Brot in der Hand. Die Tochter ist krank, und das Gehen, sagt der Vater traurig, tut ihr gut.

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