Süddeutsche Zeitung

Filmfestspiele Cannes:Düstere politische Ausblicke in Cannes

Fatih Akin zeigt im Wettbewerb der Filmfestspiele seinen Thriller "Aus dem Nichts", der von den Morden des NSU inspiriert wurde. Die Hauptrolle spielt Diane Kruger. Hat er Chancen auf eine Palme?

Von Tobias Kniebe

Wenn in Cannes die Preisverleihung ansteht, malen sich die Kritiker gern die heftigsten Debatten innerhalb der Jury aus. Was könnte dem Vorsitzenden Pedro Almodóvar gefallen haben, der sein Misstrauen gegen die Netflix-Produktionen im Wettbewerb bereits öffentlich gemacht hat? Was fasziniert Will Smith, der für seinen nächsten Film "Bright" selbst einen Netflix-Deal abgeschlossen hat? Und wofür macht die Regisseurin Maren Ade sich vielleicht stark?

Wie wenig diese Spekulationen mit der Wirklichkeit zu tun haben, kommt nur selten ans Licht - die Jurys sind auf ewig zum Stillschweigen verpflichtet. Aber dann kann es eben doch passieren, dass man bei einem Dinner im Carlton Hotel neben einem Kritiker aus einem anderen Land sitzt, der voriges Jahr einen Juryteilnehmer beim Abflug in ein Gespräch verwickelt hat. Und zu erzählen weiß, dass Maren Ade mit ihrem leer ausgegangenen "Toni Erdmann" 2016 nicht etwa heiß diskutiert wurde, wie nahezu die komplette Weltpresse dachte - sondern gar nicht.

Ob Fatih Akin mit seinem Thriller "Aus dem Nichts" in diesem Jahr mehr Glück hat? In seiner Geschichte, die von der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) inspiriert ist, fackelt er jedenfalls nicht lange, sondern kommt schnell auf einen sehr klaren Punkt. Diane Kruger, in ihrer ersten deutschsprachigen Rolle, spielt die üppig tätowierte St.-Pauli-Schönheit Katja mit halbwilder Vergangenheit, die im Gefängnis ihren charismatischen, hakennasig-vollbärtigen Haschdealer geheiratet hat. Den stellt der Deutschtürke Numan Acar dar, der sonst meist für Terroristenrollen gebucht wird (sehr prominent etwa in der vierten Staffel "Homeland").

Aber dann braucht Akin eben nur zwei, drei sparsame Momente, um Diane Kruger als coole Mutter eines wohlgeratenen Jungen zu zeigen, der Brille trägt und Geige spielt, und ihren Ehemann als vollen Resozialisierungserfolg, der dem kriminellen Milieu allenfalls noch als Übersetzer dient. Doch dann schiebt auch schon eine verhuschte junge Deutsche ein Fahrrad mit Nagelbombe vor sein Ladenbüro, und von Mann und Sohn bleibt fast nichts mehr übrig.

Der Film ist nun zunächst ein sehr guter Trauerfilm, mit den ganzen Entfremdungen und Spannungen, die so eine Tragödie umgeben - etwa von Katjas Mutter, die offenbar immer gegen diese Ehe war. Wie Katja sich verzweifelt in die Bettwäsche ihres Sohnes kuschelt, wie sie selbst ihre beste Freundin schließlich abweist und sie einen Selbstmord versucht - das ist nicht nur von Diane Kruger überzeugend gespielt, da ist auch Fatih Akin ganz in seinem Element. Dann werden die Täter gefasst, ein junges Mörderpärchen, und es sind Nazis, wie Katja von Anfang an vermutet hatte, die Polizei aber nicht.

Ein Rachedrama, in dem Diane Kruger den Freigesprochenen nachstellt

Nun wird "Aus dem Nichts" ein Gerichtsdrama, das sehr genau in seinen Details ist, etwa in der Amtssprache des unheimlich grausamen Obduktionsberichts, der da verlesen wird. Akin macht da noch keine Rechnung gegen die deutsche Gesellschaft auf - der Vater des Mörders etwa belastet seinen Sohn schwer, entschuldigt sich, die Beweislage ist wahrhaft erdrückend. Dass dann ein völlig unverständlicher Freispruch kommt, das ist das große politische Statement des Films. Vielleicht will Akin hier einfach nur frei sein für den dritten Teil des Films, ein Rachedrama, bei dem Katja den Freigesprochenen nachstellt und dabei selbst zur Nagelbombenbauerin wird.

Dabei muss er aber die eigentlichen Instanzen der Strafverfolgung komplett entwerten. Jeder Staatsanwalt würde bei einem solchen Skandalurteil automatisch in Revision gehen, es hätte nie Bestand - aber das darf hier nicht vorkommen. Stattdessen biegt Akin auf eine Zielgerade der vollkommenen Hoffnungslosigkeit ein. Man kann das auf zwei Arten lesen: Entweder will er hier vor allem große, tragische Gefühle aufrufen, ohne die Implikationen ganz ernst zu nehmen. Oder er will zeigen, wie endgültig fremd sich Menschen mit seinem Hintergrund in Deutschland gerade wieder fühlen. Das wäre dann allerdings eine furchtbare Analyse.

Was düstere politische Ausblicke im Wettbewerb betrifft, kann da eigentlich nur noch der Ukrainer Sergei Loznitsa mithalten, mit seinem "Krotkaya / A Gentle Creature".

Er zeigt ein stoische junge Frau (Vasilina Makovtseva), die plötzlich kein Lebenszeichen mehr von ihrem Mann hat, der in Sibirien im Gefängnis sitzt. Sie fährt zu ihm, schon das eine Reise voll elender Schikanen, und scheitert bei allen Versuchen, etwas über ihn herauszufinden. Dabei erscheint sie selbst mehr und mehr wie eine Beute, die Polizisten, Soldaten, Mafiosi, Zuhälter in immer engeren Zirkeln umkreisen.

Absurder Albtraum ohne eine Chance auf Entkommen

Besonders erschütternd ist dabei ihr Besuch in einem Menschenrechtsbüro, wo ein paar verzweifelte Aufrechte arbeiten, die laut den tumben, brutalen, ewig besoffenen Russen drumherum nur "Faschisten" und "Agenten ausländischer Mächte" sind. Sergei Loznitsas klischeegesättigte Auswahl zerstörter russischer Trinkergesichter kann man durchaus als tendenziös bezeichnen. Auch er möchte eben vor allem Hoffnungslosigkeit zeigen - bis sein boshafter, halbwegs realistischer Wachtraum endgültig in einen absurden Albtraum ohne eine Chance auf Entkommen umschlägt.

Vielleicht verlangt die Zeit ja wirklich nach dieser Art Düsternis. Auch Ken Loachs "Ich, Daniel Blake", der 2016 die Goldene Palme gewann, hatte bereits ein denkbar ernüchterndes Finale. Sein Protagonist stirbt am Ende in den Amtsstuben, in denen er die ganze Zeit vergeblich um bessere medizinische Versorgung gekämpft hat, an einem Herzinfarkt. Schon wahr, die Nachrichtenlage zum Ende dieses Festivals scheint auch diesmal auf der Seite der Pessimisten zu sein. Die Jury aber, da häufen sich über die Jahre dann doch die Hinweise, lebt immer in ihrer eigenen Welt.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2017/khil
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