Süddeutsche Zeitung

Filmfestpiele in Venedig:Echte Menschen, falsche Götter

Jedem Volk seine eigenes Gesicht: Ideologien dominieren auch am Ende des diesjährigen Wettbewerbs noch die Ansprüche der Filmemacher, von Kontschalowski bis Kusturica.

Von Thomas Steinfeld

Dem Filmregisseur wohnt etwas Gottähnliches inne: Für ein paar Stunden lässt er eine Welt entstehen, und die Lebensgleichheit des bewegten Bildes sorgt dann dafür, dass die Zuschauer einige Schwierigkeiten bekommen, ihre Erfahrung gegen die sinnliche Evidenz des Dargestellten zu behaupten. Die meisten Betrachter wollen das allerdings auch gar nicht. Doch gleichwie, in der Gottgleichheit des Filmregisseurs muss ein verführerischer Reiz liegen: Wenn man so etwas schaffen kann, warum nicht gleich als Gott auftreten? Der russische Regisseur Andrej Kontschalowski, fast achtzig Jahre alt und Schöpfer von bedeutenden ("Onkel Wanja", 1970) und unbedeutenden ("Der Nussknacker in 3D", 2009) Filmen, zieht in seinem jüngsten, im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig gezeigten Film "Paradise" diese Konsequenz, mit fatalen Folgen: Er kulminiert in einer Verherrlichung des individuellen Opfers für das Überleben einer menschlichen Gemeinschaft, wie man sie aus der Propaganda totalitärer Staaten kennt.

Der Film in Schwarz-Weiß spielt zwischen den Jahren 1941 und 1944, zunächst in Frankreich, dann in einem ungenannten Konzentrationslager im Osten Europas. Die drei Protagonisten erscheinen dabei doppelt: zum einen in einer Art Verhör, direkt in die Kamera blickend, zum anderen im Spielgeschehen selber. Der erste Protagonist ist ein Beamter in der Pariser Polizeibehörde, der die Deportation französischer Juden zu organisieren hat. Als er von der Résistance erschossen wird, ist offenbar, dass sich hier drei Seelen Verstorbener vor ihrem Schöpfer zu rechtfertigen haben. Der zweite Protagonist ist eine russische Adlige, die eine solche Deportation zu verhindern versucht und deswegen auch in ein Lager gebracht wird, der dritte ein hoher SS-Offizier, ebenfalls Aristokrat, der im Auftrag Heinrich Himmlers entsandt ist, um Korruption und persönliche Bereicherung in den Lagern zu unterbinden. Als der Offizier bei einem Inspektionsgang in der Russin eine Leidenschaft aus vergangenen Tagen des gemeinsamen Müßiggangs erkennt, macht er sie zuerst zu seiner Haushälterin, um sie schließlich retten zu wollen. Und so plastisch und lebensgleich die Szenen auch angelegt sind, und so glaubwürdig die Schauspieler auch agieren (vor allem Julia Vysotskaya) - es hilft nichts. Wenn am Ende Gottvater seine Stimme hinter der Kulisse erhebt und sein Urteil spricht, bleibt nichts zurück als schiere Ideologie.

Ohne solchen Budenzauber kommt der philippinische Regisseur Lav Diaz aus, der seinen Film "The Woman Who Left" in (für seine Verhältnisse überschaubaren, ja sogar konzentrierten) vier Stunden Dauer als sozialrealistisches Melodram angelegt hat: Ein Frau wird nach dreißig Jahren Arbeitslager aus der Haft entlassen, nachdem sich überraschend erwies, dass sie zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden und einem Komplott eines ehemaligen Liebhabers, eines reichen, mächtigen Mannes, zum Opfer gefallen war. Und so begibt sie sich auf eine lange Wanderung durch die Armut, um zu erfahren, dass ihr Mann längst gestorben ist, um ihre Tochter zu finden und ihren Sohn zu suchen, um sich mit den Elenden Manilas zu verbinden und eine Rache zu planen, auf die sie endlich verzichtet - worauf die gerechte Vorsehung in anderer Weise eingreift. Von grundsätzlicher Moral ist also auch dieser Film. Aber er hat eine Form dafür gefunden, in sorgfältig komponierten, stark abstrahierenden, oft fast stillstehenden (und ebenfalls schwarz-weißen) Bildern und in einer Langsamkeit, deren Absicht - den Opfern einer mit großer Brutalität herrschenden Oberklasse eine wiedererkennbare Gestalt zu geben - nicht einmal verstimmt.

Nach einem Gesicht für ein ganzes Volk, oder womöglich sogar nach Gesichtern für mehrere Völker sucht auch der bosnisch-serbische Regisseur Emir Kusturica in seinem Film "On the Milky Road" ("Auf der Milchstraße"), mit dem er nach vielen Jahren Abwesenheit wieder zu den Filmfestspielen in Venedig zurückkehrte. Das bunte, oft schrille und zuweilen schlicht sentimentale Werk umspannt fünfzehn Jahre, von den letzten Tagen der jüngsten Balkankriege bis fast in die Gegenwart, und es ist, wie bei diesem Regisseur nicht unüblich, Melodram und Slapstick-Klamotte, Heimatfilm und Musikvideo, Abenteuerfilm und romantisches Märchen zugleich. Das ideologische Interesse gibt es auch hier wieder. Und es ist unübersehbar: die Feier eines besonderen balkanischen Wesens, in enger Verbundenheit mit der Landschaft und magischen Tieren, unter besonderer Berücksichtigung der Polka, der echten Männer und der echten Frauen (vor allem: Monica Bellucci als Geliebte des heldenhaften Milchmanns, den Emir Kusturica selbst spielt). Doch ist der Film über lange Passagen mitreißend anzusehen, und der Pianist der das Geschehen begleitenden Combo hat offenbar die Schule des Bebop mit Erfolg besucht.

Gesichter schließlich tragen auch die vier jungen Frauen aus Lecce in Süditalien, die sich in Giuseppe Piccionis Film "Questi giorni" ("Diese Tage") auf eine lange Autofahrt begeben, weil eine von ihnen eine Stelle als Kellnerin in Belgrad angenommen hat und alle wissen, dass ihre Jugend - oder genauer: die Unverbindlichkeit der Lebenssituation - jetzt dem Ende zugeht. Es ist leicht, diesen Film zu unterschätzen, weil der Regisseur die Genres ausschlägt: Er unterläuft das Melodram wie die Coming-of-Age-Geschichte, er zögert mit den Sympathien für seine Figuren, ja er verweigert sogar das Road Movie. Stets sind die Motive da, aber stets werden sie nur im Ansatz ausgeführt, um dann in pragmatischen Wendungen aufgehoben zu werden. Was aber übrig bleibt, ist ein seltsam aufrichtiges, unaufgeregtes und sorgfältig arrangiertes Porträt italienischer Verhältnisse. Im Übermaß der ideologischen Ansprüche, die in diesem Jahr die Filmfestspiele beherrschen, ist dieser Film ein Glücksfall von Ehrlichkeit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3155382
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.09.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.