Süddeutsche Zeitung

Filmfestival Venedig:Vergifteter Himmel

Willem Dafoe spielt Pier Paolo Pasolini zwischen Lebemann und intellektueller Arroganz. Und Andrew Niccol schickt Ethan Hawke in einem zutiefst pessimistischen Film in den Drohnenkrieg. Filme im Wettbewerb.

Von Susan Vahabzadeh, Venedig

Wenn einer einen Film dreht, den niemand sieht, gibt es diesen Film dann wirklich? Weil auf der Leinwand nur die eine Hälfte entsteht, und wenn der Kontakt mit dem Publikum nicht klappt, das die andere Hälfte dazu liefern muss - dann hat man eben keinen ganzen Film. Zu den berühmten älteren Regisseuren, die das Festival von Venedig in den vergangenen Jahren an sich binden konnte, gehört Abel Ferrara - aber seine letzten Filme wirken irgendwie wie Meditationsübungen, wie die Geschichten eines Mannes, der längst aufgehört hat, darüber nachzudenken, ob ihm noch irgendwer zuhört und -schaut.

Auch die Produzenten scheinen sich ihrer Sache nicht sehr sicher zu sein, im Vorspann zu "Pasolini" , den Ferrara im Wettbewerb von Venedig vorstellte, tauchen mindestens ein Dutzend verschiedene Firmen und Gremien auf, die sich an dem Projekt beteiligt haben - mit kleinem Risiko.

Die Welt, behauptet Pasolini, wird immer gewalttätiger. Rom sei schon verloren

Willem Dafoe spielt den Filmemacher Pier Paolo Pasolini, in den letzten Tagen vor seiner Ermordung im November 1975, und er macht das ganz schön, legt die Figur zwischen Lebemann und intellektueller Arroganz an: der Mann, der die schwarze Sonnenbrille in Innenräumen salonfähig machte. Man sieht, wie er mit seiner Mutter in der großbürgerlichen Wohnung zu Mittag isst, ein Interview gibt, sich mit Freunden trifft und ihr Baby auf dem Schoß hält, dazwischen erzählt er von dem Buch, an dem er schreibt, Filmen, die er sich vorstellt, und das sieht man dann sozusagen als Film im Film. Die Welt, behauptet er, wird immer gewalttätiger, Rom sei schon verloren. Dann trifft er einen Jungen, nimmt ihn mit in seinem Auto und fährt seinem grausamen Ende entgegen. Das ist zu wenig, um als Biopic durchzugehen, zu schlicht, um Pasolini zu erklären - und viel zu wirr, um richtig bewegend zu sein.

Auch bei Roy Andersson, der den letzten Teil seiner Trilogie "über das Leben" im Wettbewerb vorstellte, scheint die Frage, worauf er eigentlich hinaus will, keine Rolle mehr zu spielen - den Kontakt zu seinem Publikum hält er aber trotzdem. Andersson hat einen sehr eigentümlichen Stil, lose miteinander verknüpfte Handlungsstränge, ein ausgeprägter Sinn fürs Groteske, sehr künstliche, altmodische Dekors in Erd- und Pastelltönen; seinem neuen Film "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" hat er noch konsequenter alle kräftigen Farben ausgetrieben als er das früher, zum Beispiel in "Songs from the Second Floor" (2000) tat.

Es soll hier darum gehen, was es heißt, ein Mensch zu sein - unter dieses Dach passt so ziemlich alles, und das Sammelsurium an Szenen, die sich die reflektierende Taube in Anderssons Vorstellung von oben verwundert anschaut, wirkt etwas beliebig. Der Film setzt sich aus Episoden zusammen, manche sind mehrteilig in den Film eingefügt, andere als Einzelstücke. In der besten Episode tauchen Soldaten in einem sehr gegenwärtig wirkenden Café in Göteborg auf, verjagen alle Frauen, und dann reitet Karl XII. herein und bestellt etwas zu trinken - das ist sehr schön absurd und witzig. Die meisten Episoden aber sind doch eher die sehr kunstvoll gedrehte Variante einer Comedy-Serie wie "Little Britain" - was durchaus vergnüglich ist. Mehr aber auch nicht.

Neben "Red Amnesia" des Chinesen Wang Xiaoshuai sehen Andersson und Ferrara jedenfalls ein bisschen alt aus. Der weiß von den ersten Minuten seines Films an ganz genau, worauf er hinaus will, legt in den ersten Bildern ein paar irritierende Spuren, und man kommt ziemlich lange nicht dahinter, wohin die Reise geht. Von Anfang an liegt ein verborgener Schrecken in dieser sehr alltäglich beginnenden Geschichte: Deng, eine alte Frau in Peking, besucht täglich ihre beiden Söhne, die davon nicht immer begeistert sind - sie ist einsam seit dem Tod ihres Mannes und füllt die Leere mit Geschäftigkeit. In ihrer Wohnung läutet plötzlich das Telefon, niemand ist dran. Das passiert immer wieder, und außerdem ist da dieser Junge im gestreiften T-Shirt, der ihr überall zu begegnen scheint. Ein Geist, sagt sie ihren Söhnen - und dass es hier um eine alte Schuld ginge, die sie begleichen muss.

Der Spuk, den Deng spürt, ist letztlich ihre eigene, sorgfältig verdrängte Vergangenheit, Dinge, die sie während der Kulturrevolution getan hat. "Red Amnesia" funktioniert wie ein Thriller, bleibt aber dann doch ganz auf dem Boden der Tatsachen. Wie er zeigt, wie jemand genau weiß, was richtig wäre, und doch das Falsche tut - das ist jedenfalls meisterlich. Wang Xiaoshuai, der sich schon mehrfach mit der chinesischen Zensur angelegt hat, ist damit unbedingt ein Anwärter auf den Goldenen Löwen.

Wenn auch die Jury sich für "Red Amnesia" entscheiden würde, käme allerdings ein anderes Problem ins Spiel: Seit einigen Jahren ist es in Venedig, wie auch in Cannes, nicht mehr üblich, einem Film mehrere Preise zu geben. Es muss aber auch einen Preis für die beste Darstellerin geben - und da ist das Feld ziemlich eng. Eigentlich haben nur drei der Wettbewerbsfilme in dieser Hinsicht überhaupt eine Chance. Chiara Mastroianni und Charlotte Gainsbourg stehen im Zentrum von "Trois Cœurs", Lü Zhong ist ganz definitiv der Mittelpunkt von "Red Amnesia"; und dann bliebe nur noch der italienische Beitrag "Hungry Hearts". Saverio Costanzo erzählt darin eine hanebüchene Geschichte in New York, Alba Rohrwacher spielt eine Nervensäge par excellence: eine durchgeknallte vegane Mutter, die sich anschickt, ihr Baby verhungern zu lassen, mit Unterstützung des Jugendamts. Preiswürdig ist das eigentlich nicht. Aber das muss ja nichts heißen.

Ethan Hawke schießt mit seiner Drohne Menschen in aller Welt ab. Danach geht er nach Hause

Da hat Andrew Niccol mit "Good Kill" sich wesentlich mehr Gedanken gemacht über die Beschaffenheit der Gegenwart - mit "Gattaca" hatte er sich einst früh einen Reim auf die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gemacht, sein "Good Kill" nimmt sich nun den Drohnenkrieg vor. Ethan Hawke spielt den Piloten Tommy - der schießt auf der ganzen Welt Menschen ab, von einem System in Nevada aus, nach getaner Arbeit kann er nach Hause. Doch er ist sich bewusst, dass er selbst kein Risiko eingeht, und geht an dem, was er tut, langsam zugrunde. Er müsste alles Mitgefühl mit den Menschen, die er via Satellit stundenlang beobachtet, bevor er zuschlägt, unterdrücken.

Und so ist nicht nur der Terror zu einem Krieg geworden, der unerklärt überall stattfindet - auch der Krieg gegen den Terror hat Einzug gefunden in die beschauliche Siedlung in Nevada, in der Tommy mit seiner Familie wohnt. Früher, sagt er einmal, gab es den Krieg, und etwas anderes - ein Leben, meint er damit. Niccols Film ist zutiefst pessimistisch - denn er sieht einen Teufelskreis aus Schlägen und Gegenschlägen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Immer wieder zeigt er Nevada aus derselben Vogelperspektive, aus der Tommy Afghanistan beobachtet. Wenn er draußen ist, schaut er immer wieder nach oben, in einen vergifteten Himmel.

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SZ vom 06.09.2014/cag
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