Filmfestival Venedig:Aus der Balance

Filmfest Venedig - Goldener Löwe

Das Filmfestival Venedig im Abseits: Ein Goldener Löwe garantiert weder einen Verleih noch einen nennenswerten Erfolg an den Kinokassen.

(Foto: Jens Kalaene/dpa)

Die hübsch gefilmte Sketch-Parade eines Altmeisters oder ein schön anzusehender Nischen-Dokumentarfilm: Ist das wirklich ein Rezept gegen die Übermacht von Cannes? Das Filmfestival Venedig gerät zunehmend ins Abseits. Dabei braucht die Kinolandschaft es noch immer.

Von Susan Vahabzadeh

Vor den Festivalgebäuden auf dem Lido in Venedig klafft immer noch die Grube, die vor Jahren ausgehoben wurde für einen neuen Film-Palast. Die Pläne für den Neubau sind inzwischen endgültig begraben, stattdessen wird jetzt jeder Cent in die Renovierung von Palazzo und Casino gesteckt.

Das ist ein Symptom: Die Festivals, auch die großen, müssen froh sein, wenn alles bleibt wie es ist, auf Zuwachs braucht keiner mehr zu setzen. Besonders Venedig droht, ins Abseits zu geraten - es scheint mit jedem Jahr ein wenig kleiner und leiser zu werden.

2014 war insgesamt bislang kein grandioses Kinojahr. Nicht wie das vergangene, das von Cannes strahlte bis zu einem Oscar-Rennen mit gleich mehreren Favoriten.

Je mehr Cannes den Abstand zu den anderen Festivals ausbaut, desto mehr gerät Venedig unter Druck. Berlin hat der Tatsache, dass Cannes sich die besten Filme sichert, immerhin noch einen Markt entgegenzusetzen.

In Venedig scheint man aus der Not eine Tugend machen zu wollen - die Liste der Siegerfilme liest sich zumindest so: Der Goldene Löwe ging an ein Alterswerk des Schweden Roy Andersson, "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence", das seinen früheren Filmen zwar sehr ähnlich sieht, insgesamt aber doch mehr mit einer sehr hübsch gefilmten Sketch-Parade gemein hat als mit einer scharfen Satire; der Silberne Löwe an einen schön anzusehenden Nischen-Dokumentarfilm von Andrej Kontschalowski.

Von den Filmen, die die Jury ausgesucht hat, wird man nicht mehr viel hören

Dazu die zwei Darstellerpreise für Alba Rohrwacher und Adam Driver in "Hungry Hearts", einem italienischen Film mit einer zynisch aufgepeppten Story über ein verhungerndes Baby voller falscher Bilder. Das heißt: Zwei Filme, die davon leben, dass ihre Schöpfer einmal Großes geschaffen haben, und ein hochspekulatives, misslungenes Drama. Ist das wirklich das richtige Rezept, um ein Profil zu entwickeln?

Es fehlt der Superfilm, hat die Lokalzeitung in Venedig, Il gazettino, in den letzten Festivaltagen getitelt - das stimmt auch. Aber es ist nicht so, als hätte der 71. Wettbewerb nichts Aufregendes zu bieten gehabt: David Oelhoffen hat Camus in einen Western übersetzt, in seinem Algerienkriegsfilm "Loin des hommes"; Andrew Niccol Ethan Hawke in den Drohnenkrieg geschickt mit "Good Kill"; es gab den rebellischen Mafia-Film "Anime Nere" und Rahmin Barahnis Immobilienkrisen-Thriller "99 Homes" mit Andrew Garfield. So schlecht war das nicht. Auch, wenn nichts davon irgendetwas gewonnen hat.

Die Preise in Venedig

Goldener Löwe für den besten Film: "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" von Roy Andersson

Großer Preis der Jury: "The Look of Silence" von Joshua Oppenheimer

Silberner Löwe für die beste Regie: Andrej Kontschalowski für "Belye Nochi Pochtalona Alekseya Tryapitsyna (The Postman's White Nights)"

Spezialpreis der Jury: "Sivas" von Kaan Müjdeci

Coppa Volpi für den besten Schauspieler: Adam Driver für "Hungry Hearts"

Coppa Volpi für die beste Schauspielerin: Alba Rohrwacher für "Hungry Hearts"

Bestes Drehbuch: Rakhshan Bani-Etemad and Farid Mostafavi für"Gesseah / Tales"

Goldene Löwen fürs Lebenswerk: Thelma Schoonmaker und Frederick Wiseman

Bester Film in der Nebenreihe Orrizonti: "Court" von Chitanya Tamhane

Marcello-Mastroianni-Preis für Nachwuchsdarsteller: Romain Paul für "Le dernier coup de marteau"

Von den Filmen, die sich die Jury um den Komponisten Alexandre Desplat ausgesucht hat, wird man nicht mehr viel hören nach der Preisverleihung: nicht von Andrej Kontschalowskis "The Postman's White Nights", der mit Laiendarstellern eine Geschichte über ihren kargen Alltag an einem sibirischen See erzählt. Und wohl auch nicht von dem eher schlicht gestrickten türkischen Film "Sivas" über einen Jungen, der einen Kampfhund findet. In dieser Auswahl hat Roy Anderssons Löwen-Gewinner noch die größten Aussichten an den Kinokassen - in Ermangelung von Konkurrenz.

Ein Goldener Löwe garantiert nicht mal mehr einen Verleih

Es gibt einen drei Jahre alten Überblick über die weltweiten Einspielergebnisse, die die Sieger der großen Festivals seit der Jahrtausendwende zusammenbrachten, dabei kam auch damals schon heraus, dass die Cannes-Sieger zwischen 2001 und 2010 weltweit 505 Millionen an der Kinokasse verdient haben, die venezianischen Löwen es aber auf insgesamt nur 377 Millionen Dollar brachten. 178 davon entfallen auf einen einzigen Film, Ang Lees "Brokeback Mountain" von 2004.

Sollte man diese Liste noch mal auf den neuesten Stand bringen, kämen noch Alexander Sokurov mit "Faust" (2011), Kim-Ki Du mit "Pietá" (2012) und Gianfranco Rosi mit "Sacro GRA" im vergangenen Jahr als Sieger dazu - "Pietá" hat das Gesamtergebnis um ein weltweites Einspielergebnis von drei Millionen Dollar erhöht, die anderen beiden sind so schlecht gelaufen, dass es gar kein weltweites Einspielergebnis gibt. Ein Goldener Löwe garantiert nicht mal mehr einen Verleih, geschweige denn einen nennenswerten Erfolg an den Kinokassen.

Ein Grund dafür ist es, dass die Mechanik dieser Preise in Venedig aus der Balance geraten ist. Wenn man Löwen, Bären oder Palmen Filmen gibt, die für ein größeres Publikum interessant sind, dann können sie, wenn sie gelegentlich einmal an einem cineastischen Außenseiter gehen, diesem eine Aufmerksamkeit verschaffen, die er sonst nicht bekäme.

Wenn man die Außenseiter zur Regel macht - dann werden die Preise zu einem Prädikat für schwer nachvollziehbare filmische Anstrengungen, von denen sich das Publikum lieber fernhält. Egal, ob man "Sacro GRA" nun gut gemacht findet oder nicht: Ein Dokumentarfilm über eine italienische Autobahn ist von Haus aus einfach kein Straßenfeger, und es ist niemand ein Banause, wenn er sich einen solchen Film nicht im Kino ansieht.

Warum die Jurys so entscheiden, ist schwer zu sagen - man hört immer wieder, dass es in Italien die Sehnsucht gibt, die eigenen Filme prämiert zu sehen, was in den letzten beiden Jahren auch tatsächlich passierte. Wie das zustande kommt, wissen nur die Juroren. Grundsätzliche Vorbehalte gegen alles, was amerikanisch ist oder aus anderen Gründen unter Popularitätsverdacht steht, spürt man aber manchmal auch in den Kinosälen.

Die roten Teppiche sind nun mal wichtig

Das Festival darf nicht nur auf Glamour wert legen, aber es muss ihn im Blick behalten - ein puristischer Kulturbetrieb hat keine Überlebenschance. Die roten Teppiche sind nun einmal wichtig, sie bringen Aufmerksamkeit. Und nur dorthin, wo die Aufmerksamkeit liegt, wollen die großen Filmemacher hin.

Es ist zunehmend so, dass Cannes alle großen Festival-Filme an sich bindet und für die anderen Festivals nur wenig übrig bleibt. Vielleicht wären kleinere Wettbewerbe ein Gegenmittel - wenn der Preis nichts mehr gilt und die Paparazzi nicht genug zu tun haben, hilft aber auch das nicht. Es gäbe dann keinen Grund mehr für eine Filmfirma, riesige Summen in eine Premiere in einem Wettbewerb zu investieren, den sie sowieso nicht gewinnen werden.

Das ist ein Teufelskreis: Wenn ein Festival keine Startrampe zum Erfolg mehr ist, bekommt es die Filme nicht mehr, die es dazu machen würden.

Wer nicht viel von Monopolen hält, sei es in der Wirtschaft, in der Meinungsbildung oder in der Kunst, muss Venedig wünschen, dass es sich in der Oberliga der Filmfestivals halten kann. Nicht, weil es die Mutter aller Festivals ist, sondern weil die Kinolandschaft es immer noch braucht - im Namen der Vielfalt.

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