Filmfestival San Sebastián:Schwule sind die besseren Mütter

Filme erzählen nicht mehr von dysfunktionalen Familien: Mutterschaft ist das große Thema auf dem Filmfestival San Sebastián.

Rainer Gansera

Mutter und Kind. Das Urbild: Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Paul (Louis-Ronan Choisy) besucht eine Kirche, entzündet eine Kerze am Marienaltar, wirft auch einen Blick zur Statue des Josef-Altars, wo der Mann das Kind in Armen hält. Dann geht er in die Klinik zu seiner Schwägerin Mousse (Isabelle Carré), die gerade entbunden hat, und betrachtet hingebungsvoll das neugeborene Kind. Der Vater des Kindes, Pauls Bruder, ist an einer Drogenüberdosis gestorben. Paul, der schwul ist, hat sich um die werdende Mutter, eine Drogenabhängige auf Entzug, in ihrem ländlichen Schwangerschaftsrefugium gekümmert. Nun legt Mousse ihm das Baby in den Arm:

"Ich habe gesehen, mit welchen Augen du das Kind betrachtet hast, ich überlasse dir das Kind, bei dir ist es besser aufgehoben!" Paul wiegt das Baby in seinen Armen wie eine fragile Kostbarkeit.

Auf dieses emblematische Schlussbild steuert François Ozon in seinem Wettbewerbsbeitrag "Le refuge" von Anfang an zu. Ozon zeigte sich wieder einmal als der derzeit wandlungsreichste Filmemacher des französischen Kinos. Zuletzt präsentierte er in "Ricky" ein Baby, dem Engelsflügel wuchsen.

Ausgangspunkt für "Le refuge" sei sein Wunsch gewesen, einmal "eine wirklich schwangere Darstellerin vor der Kamera zu haben". "Le refuge": der schönste, zauberisch eindringlichste Film des 57. Filmfestivals von San Sebastián, das am Samstag mit der Preisverleihung zu Ende ging, zugleich der Film, der gleich zu Beginn der neun Festivaltage das Thema anschlug, das sich wie ein roter Faden durchs Programm ziehen sollte: Mutterschaft.

Es mag an der eigenwilligen Auswahl des Festivaldirektors Mikel Olaciregui, der den themenbezogenen Film liebt, liegen, aber es scheint doch so, dass "Mutterschaft" zurzeit das große Thema ist. Die Filme erzählen nicht mehr nur von den sogenannten dysfunktionalen Familien.

Dass Eltern geschieden sind, getrennt leben, sich als Alleinerziehende überfordert fühlen, das scheint längst Normalität. Jetzt geht es um Mutterschaft im emphatischen Sinne. Kinder sollen nicht nur heideggerisch ins Dasein geworfen werden, sie sollen mütterliche Fürsorge erfahren, eine lebbare Welt vorfinden. Da kann es dann sein, dass Männer die besseren Mütter sind, auch - wie bei Ozon - schwule Männer.

Hat man einmal die Aufmerksamkeit auf dieses Motiv gerichtet, entdeckt man es in jedem zweiten Film und staunt, wie variantenreich es sich auffächern kann. Geschichten von schwangeren Teenagern, die ihre Kinder - zumeist gegen den Rat ihrer Mütter - zur Welt bringen. Herzerschütternde Dramen von Kindern, die ihre abdriftenden Erziehungsberechtigten zur Raison bringen müssen und sie daran erinnern, was es heißt, Mutter oder Vater zu sein. Psychostudien von Frauen, die durch die Schwangerschaft aus einer Identitätskrise erlöst werden.

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Abdriftende Erziehungsberechtigte

Sogar in der prächtig ausgestatteten Richard-Brooks-Retrospektive des Festivals entdeckt man dann (in "Something of Value", 1957) die schwangere weiße Siedlerin im Kenia der fünfziger Jahre, die mit dem Gewehr im Anschlag ihre Farm und also die Zukunft ihres Kindes gegen marodierende Mau-Mau-Terroristen verteidigen muss.

Überall Mutter-Symbole und -Metaphern. Die motivische Sicht trübt bisweilen den Blick auf die inszenatorischen Qualitäten, aber es zeigt sich, dass die gedanklich klarsten Filme auch die stilistisch überzeugendsten sind. Wie zum Beispiel "Blessed" der Australierin Ana Kokkinos.

Göttin Kali in der Disco

Der Titel spielt auf den "gesegneten" Zustand der Schwangerschaft an, und die Erzählung schildert fünf Familiendramen: zuerst aus der Sicht der jugendlichen Kinder, dann aus der Sicht der Mütter. Dabei entwirft Ana Kokkinos eine spannende Phänomenologie der Mutterschaften. Da ist die besitzergreifende Mutter älteren Typs, die sich an ihren Sohn klammert und ihm ihre Ambitionen aufbürdet. Da ist die "moderne" Mama, die ihrer Tochter die "beste Freundin" sein will und es dabei versäumt, ihr eine verlässliche Mutter zu sein. Die ergreifendste Figur in "Blessed" aber ist der Prototyp einer beim Sozialamt hinlänglich bekannten "Problem"-Mutter, die ihre beiden Kinder schändlich vernachlässigt und sich gleichwohl fortgesetzt von immer neuen Männern schwängern lässt. Als die Hochschwangere erfährt, dass ihre Kinder bei einem schrecklichen Unfall zu Tode kamen, besichtigt sie die Leichname im Leichenschauhaus, um danach in die Disco zu gehen. Sie tanzt im Discokugelflackerlicht und sieht für einen Augenblick wie die Hindu-Göttin Kali aus: unheimliche Muttergestalt, die in ihrem selbstvergessenen Tanz zugleich Leben schenkt und Leben zertrampelt. Fruchtbarkeit und Tod.

Es blieb dem deutschen Wettbewerbsbeitrag "This is Love" vorbehalten, das Thema Kinderprostitution anzuschneiden. Regisseur Matthias Glasner geht dabei mit der Geste des Provokateurs zu Werke - "ein Tabu-Thema mal anders beleuchten" - und erweist sich einmal mehr als banaler Spekulant. "This is Love" ist ein läppischer, lieblos gebastelter TV-Film, der sich durch Krassheiten wichtig machen will. So präsentiert er eine totalalkoholisierte Kommissarin und den abgeschmackten Versuch, Pädophilie doch irgendwie als Lovestory zu verkaufen.

Opfertier und Hexe

Naturgemäß ist das Festival von San Sebastian Schaufenster für den spanischen und lateinamerikanischen Film. Aus Argentinien kam der Wettbewerbsfilm, der bei Publikum und Kritik die höchste Zustimmung erfuhr: Juan José Campanellas "El secreto de sus ojos". Ein spannender und quicklebendiger Thriller, der einen 25 Jahre zurückliegenden Mordfall in Buenos Aires wieder aufrollt und dabei wie selbstverständlich vom schmerzhaftesten Kapitel der argentinischen Geschichte erzählt. Im Kern beschreibt Campanella den Typus des Macho-Mannes, der in seiner gekränkten Männlichkeit bedenkenlos über Frauenleichen geht und zum willkommenen Werkzeug der Diktatur wird.

Den Hauptpreis des Festivals, die Goldene Muschel, hat dann jedoch überraschend der plakative chinesische Kriegsfilm "City of Life and Death" ("Nanjing! Nanjing!") von Lu Chuan erhalten. Ozon bekam für "Le refuge" den Spezialpreis der Jury.

Die Männer-Bilder müssen sich wandeln, am besten durch die Auseinandersetzung mit den Mutter-Bildern. "Mother" heißt der vierte Spielfilm des Südkoreaners Bong Joon-ho (Jahrgang 1969) - ein furioser Mix aus comichaftem Erzählstil und griechischer Tragödie. Die porträtierte alleinerziehende Mutter eines 27-jährigen geistig retardierten Jungen erscheint in den extremsten Facetten: opferbereites Muttertier und gefährliche Hexe.

Bleibt die Frage: Wie kommt es zu dieser Rückbesinnung auf emphatische Elternschaft? Als Antwort bietet sich eine Analogie an. Wie im gesellschaftlich Großen die Systeme Kapitalismus und Sozialismus abgewirtschaftet haben und nach dritten Wegen gesucht wird, so auch im Kernbereich der Familie. Es führt zu familiären Katastrophen, wenn Eltern immer nur ihre eigenen Ambitionen ins Zentrum stellen. Der dritte Weg im Bereich der Familie - so zeigten es die interessantesten Filme des Festivals - besteht darin, sowohl die patriarchale wie die matriarchale Sicht zu verlassen, um ganz und gar von den Ansprüchen des Kindes auszugehen.

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