Filmfestival Locarno:Von dieser Welt

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Quentin Tarantinos Hommage an das amerikanische „Blaxpoitation Cinema“ im Allgemeinen und den Film „Foxy Brown“ im Speziellen: Szene aus „Jackie Brown“. (Foto: Still aus Quentin Tarantinos "Jackie Brown")

Unterdrückung und Widerstand aus neun Jahrzehnten: Die Retrospektive "Black Light" in Locarno zeigt, wie aktuell die Themen des schwarzen Kinos heute immer noch sind.

Von Isabel Pfaff

Es ist kein geringerer als James Baldwin, der dieser Filmschau ihren Rahmen, ihre Dringlichkeit gibt - und das in einem kurzen Dokumentarfilm, der bereits 50 Jahre alt ist. Der 1987 verstorbene Baldwin, bis heute einer der wichtigsten schwarzen Intellektuellen, spricht in "Baldwin's Nigger" (1969) in London über die Tragik, die sich in jede afroamerikanische Biografie eingeschrieben hat, seit die ersten Sklavenschiffe im 16. Jahrhundert den Atlantik überquerten. Die Tragik einer gewaltsam unterbrochenen Herkunftsgeschichte, die Millionen Menschen ungefragt in eine andere Welt verpflanzt hat. "Anders als Weiße müssen wir alles hinterfragen und unsere Geschichte neu schreiben", sagt Baldwin seinen Zuhörern in London.

"Black Light", die diesjährige Retrospektive des Filmfestivals in Locarno, nimmt Baldwins Auftrag an. Sie will die Geschichte des Kinos erweitern um die Perspektive schwarzer Autoren, Regisseurinnen und Schauspieler, um schwarze Filmkulturen und Sehgewohnheiten. Und zu den ersten Erkenntnissen dieser Schau gehört, dass Baldwins Vorhaben in Bezug auf das Kino auch 50 Jahre später nichts an Aktualität verloren hat.

Greg de Cuir Jr., der amerikanische Kurator der mehr als 40 Filme umfassenden Retrospektive, hat einen zunächst fragwürdig erscheinenden Weg gewählt: Afrikanische Filme sucht man bis auf zwei Ausnahmen vergebens in seiner Schau. "Ich glaube, dass der afrikanische Kontinent und sein Kino eine andere Retrospektive erfordern, mit gesonderten Erkundungsmethoden und -instrumenten", sagt de Cuir. Er interessiert sich explizit für die Erfahrungen und Perspektiven all derer, deren Vorfahren die "Middle Passage" über den Atlantik überlebten, die abgeladen wurden in einer Zivilisation, die bis heute Schwierigkeiten damit hat, sie als gleichwertig anzuerkennen.

Und so versammelt Greg de Cuir Filme aus Brasilien, Kuba, Jamaika und, in der großen Mehrheit, aus den USA, um die Geschichte von 100 Jahren Black Cinema zu erzählen - als "Collage", als "Vorschlag", wie er betont, nicht als abschließende Erklärung. Das filmische Panorama beginnt 1919, mit dem verschollen geglaubten Stummfilm "Within Our Gates" des US-Amerikaners Oscar Micheaux - nach Angaben des Kurators das älteste überlebende Werk eines schwarzen Regisseurs.

Schwarzes Kino heißt für de Cuir nicht "schwarze Körper vor oder hinter der Kamera"

Mit seinen Motiven - Rassismus, Lynchjustiz, der Gegensatz zwischen Nord und Süd, das segregierte Bildungssystem - bringt Micheaux schwarze Leidensgeschichten und Emanzipationskämpfe auf die Leinwand, die noch Jahrzehnte später verleugnet werden sollten. Ausgehend von diesem revolutionären Ursprung spannt die Retrospektive einen globalen Bogen, der mit dem filmischen Essay "still/here" (2000) von Christopher Harris endet, einem düsteren Porträt von North St. Louis, wo der Regisseur einen Großteil seines Lebens verbrachte. Ein deprimierender Abschluss, der aber nicht als solcher empfunden werden soll: In den 20 Jahren seit "still/here" ist viel passiert, meint Greg de Cuir, gesellschaftlich und filmisch. Doch sein Ziel war ein historischer Querschnitt, "um die Vergangenheit hervorzuholen und das Verständnis, das wir heute vom Black Cinema haben, zu ergänzen und zu bereichern".

Die Schau zeigt Arbeiten quer durch alle Genres, der Schwerpunkt liegt aber auf langen Spielfilmen, den teuren Produktionen, die sich schwarze Künstler besonders erkämpfen mussten. Der Kurator stellt dabei afrikanische Regisseure wie Ousmane Sembène neben Hollywoodgrößen wie Quentin Tarantino, der französische Ethnologe Jean Rouch kommt ebenso in der Retrospektive vor wie US-Filmemacher Spike Lee. Schwarzes Kino heißt für Greg de Cuir nicht "schwarze Körper vor oder hinter der Kamera", sondern bestimmte Kulturen des Filmemachens, das Thematisieren bestimmter Erfahrungen und Wahrnehmungen.

"Abschließend definieren können wir es aber immer noch nicht."

Vor allem das "Blaxploitation"-Kino, in Locarno unter anderem durch den US-Regisseur Melvin Van Peebles vertreten, vermittelt eine Ahnung davon, was de Cuir meint. Mit wenig Geld produzierte Geschichten aus den schwarzen Neighborhoods über Unterdrückung und Widerstand, erzählt in schnellen Bildern, oft mit expliziten Sex- und Gewaltszenen, getrieben von einem funkigen Soundtrack: Blaxploitation-Filme zeigen dem weißen Publikum auch heute noch, welch kantige, raue Ästhetik ihnen durch die Einseitigkeit der Kinogeschichte entgangen ist.

Am Ende dieser umfangreichen und überraschenden Retrospektive bleibt der Eindruck einer irritierenden Zeitlosigkeit. Die ermordeten Eltern der Protagonistin von "Within Our Gates", Baldwins Anklagen an die weiße Mehrheitsgesellschaft, Spike Lees Darstellung von Rassenhass in Brooklyn: Vieles, was Greg de Cuir aus neun Jahrzehnten Filmgeschichte versammelt hat, könnte heute fast genauso erzählt werden; die Motive und Texte wirken selten alt oder längst verinnerlicht. De Cuirs Panorama wirft nicht nur schwarzes Licht auf die Kinogeschichte - es wirkt auch im besten Sinn politisch.

© SZ vom 16.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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