Süddeutsche Zeitung

"Monte Verità" in Locarno:Versuch einer Utopie

Der Regisseur Stefan Jäger zeigt beim Festival von Locarno seinen Spielfilm "Monte Verità" über eine legendäre Schweizer Aussteigerkolonie für Künstler, Reformer und Nudisten.

Von Isabel Pfaff

Eigentlich keine Frage, dass der Film "Monte Verità" an diesem Ort Premiere haben muss: auf der Piazza Grande von Locarno, dem zentralen Platz des Tessiner Städtchens, der sich immer im August in ein gigantisches Freiluftkino verwandelt - wenn nicht gerade eine Pandemie das Filmfestival ins Digitale verbannt, wie 2020. Dieses Jahr darf man in Locarno wieder wie früher Filme gucken, auf der Piazza Grande und in den vielen Filmstätten der Stadt.

Und das ist ein Glück für die Macher von "Monte Verità", die ihren Spielfilm in Locarno vorstellen durften, denn sie erzählen eine Geschichte, die sich vor mehr als 100 Jahren nur vier Kilometer von der Piazza entfernt zugetragen hat: auf einem Hügel oberhalb des Nachbarortes Ascona, der früher eigentlich Monte Monescia hieß. Zum legendären Monte Verità, Berg der Wahrheit, hat ihn erst eine Gruppe von Aussteigern gemacht - Künstlerinnen, Reformer und Unangepasste aus Berlin, Siebenbürgen und Belgien, die der Wunsch einte, den industrialisierten Metropolen Europas eine Utopie entgegenzusetzen.

Hermann Hesse machte 1907 einen Alkoholentzug auf dem Monte Verità

Sie kauften 1900 ein Stück Land oben auf dem Monte Monescia, gründeten eine Kooperative und versuchten sich an einem kühnen gesellschaftlichen Gegenentwurf. Vegetarische Ernährung gehörte ebenso dazu wie Freikörperkultur, Naturheilkunde, Frauenemanzipation und frühe Formen des modernen Ausdruckstanzes. Unterm Strich nahmen die Bewohner des Hügels vieles von dem vorweg, was noch heute als das naturverbundene, bessere Leben gilt.

Doch die Utopie des Monte Verità währte nicht lange. Schon in den ersten Jahren nach der Gründung spaltete sich die Gruppe auf: Die einen gründeten ein Sanatorium, um ihre Existenz zu sichern, die anderen bezogen Ruinen und ernährten sich von Früchten und Wurzeln, um der Natur noch näher zu sein. Und obwohl der Hügel im Tessin bald zum It-Spot von zivilisationsmüden Künstlern, Literaten, Anarchisten und anderen Abweichlern wurde, scheiterten die Gründer letztlich mit ihrem Versuch, aus ihren Idealen eine funktionierende Kolonie zu formen. 1920 verschwanden die letzten von ihnen. In den Jahrzehnten darauf entstand auf dem Gelände des Monte Verità ein exklusives Kurhotel samt Erholungspark; mittlerweile gehört der Komplex dem Kanton Tessin, der dort zusammen mit der ETH Zürich ein Kongresszentrum betreibt. An die Visionen und Experimente der Monte-Verità-Gründer erinnern heute nur noch wenige Gebäude, darunter ein Museum.

Aus dieser langen, auch leidvollen Geschichte greift der Film "Monte Verità - der Rausch der Freiheit" den Sommer 1906 heraus. Die Wienerin Hanna (Maresi Riegner) will ihrer beengten Existenz als bürgerliche Ehefrau und Mutter entfliehen und folgt ihrem Arzt Otto Gross (Max Hubacher), der ihr vom "fortschrittlichsten Flecken auf Erden" vorschwärmt, ins Tessin. Sie erreicht den Monte Verità, bezieht ein Zimmer in dem Sanatorium und lässt sich langsam auf die Menschen in Reformkleidern ein, die Licht- und Luftbäder nehmen und abends entrückt ums Feuer tanzen. Sie verändert sich, legt ihre strenge Wiener Garderobe ab, widmet sich der Fotografie - kurzum: befreit sich.

Begleitet wird sie - eine rein fiktive Figur - bei dieser Reise von jenen Menschen, die den Berg wirklich geprägt haben. Neben dem drogensüchtigen Otto Gross, einem häufigen Besucher des Sanatoriums, und Hermann Hesse (Joel Basman), der 1907 eine Alkoholentzugskur auf dem Monte Verità machte und sich später ganz im Tessin niederließ, sind das vor allem Ida Hofmann (Julia Jentsch) und Lotte Hattemer (großartig: Hannah Herzsprung). Die beiden Frauen waren Mitgründerinnen der Kolonie. Hofmann, eine in Sachsen geborene Frauenrechtlerin und Pianistin, betrieb mit ihrem Lebenspartner Henri Oedenkoven das Sanatorium; die Berlinerin Hattemer gehörte zu jenen, die sich früh von der Gruppe abspalteten und im Wald lebten.

All diese realen Schicksale, die reiche Geschichte des Bergs deutet "Monte Verità" nur an; die Kämpfe und die Zerrissenheit von Hanna erzählt er dagegen ausführlich und manchmal nah am Kitsch. "Ich wollte keinen Wikipedia-Film über den Monte Verità machen", sagt Stefan Jäger, der Schweizer Regisseur. Seit er 1989 zum ersten Mal auf dem Hügel war, habe er dessen Geschichte erzählen wollen, von diesem Versuch einer Utopie. Deren Scheitern interessierte ihn dabei weniger. "Mit der erdachten Figur Hanna konnten wir die Utopie leben lassen."

Und so vermittelt Jägers Film vor allem ein sinnliches Bild von den Geschehnissen auf dem Monte Verità. Er setzt damit zwar auch diesem Stück Weltgeschichte ein Denkmal, aber vor allem dem Ort mit seinem flirrenden Licht und der betörenden Landschaft. Allerdings, das muss man erwähnen, wurde keine der Bergszenen auf dem Berg selbst gedreht. Das verwundert nicht, schließlich sind kaum noch historische Bauten erhalten, und wer sich von Ascona aus auf den Hügel aufmacht, muss sich erst durch eine furchtbar hässliche Siedlung kämpfen, bis er das Gelände des Monte Verità erreicht. Die Dreharbeiten fanden deshalb in einem nahe gelegenen Ort im Maggia-Tal statt, wo die wilde Schönheit der Region noch nicht verbaut wurde.

Im Zentrum der oft sonnendurchfluteten Bilder des Films stehen die Frauen: neben Protagonistin Hanna die überzeugte und tatkräftige Ida und die entrückte, todessehnsüchtige Lotte. Stefan Jäger und Drehbuchautorin Kornelija Naraks ist es gelungen, die Geschichte des Bergs vor allem über dieses "Frauen-Dreieck", wie Jäger es nennt, zu erzählen. Die Gespräche der Frauen haben vor allem mit ihnen, ihren Nöten und Überlegungen zu tun, selten mit Männern. Insbesondere in diesen Momenten ist "Monte Verità" so modern wie seine Gründerinnen. Im Dezember wird der Film regulär in den deutschen Kinos starten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5378452
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.