Filmfestival Leipzig:Wie man sein Kind loswird

Valya ist 22 Jahre alt, Fabrikarbeiterin und Mutter - und will Fernsehstar werden. Die Dokumentation "Vodka Factory" wurde in Leipzig zum Abschluss des Filmfestivals ausgezeichnet, wo nicht alle Filme überzeugten.

Martina Knoben

Ausgerechnet Gorkis Mutter hat Valya für ihr Vorsprechen bei der Schauspiellehrerin ausgewählt. "Etwas Leichtes", meint sie. Die Lehrerin ist entsetzt. Der Roman sei ein Aufruf zur Rebellion - "und das macht dir keine Angst?"

"Vodka Factory"

Seine Mama möchte so gerne Schauspielerin werden. Nur wohin dann mit ihrem kleinen Sohn Danila? "Vodka Factory" hat die Goldene Taube auf dem 53. Dokumentarfilmfestival Leipzig gewonnen.

(Foto: Festival Leipzig)

Valya ist 22, Arbeiterin in der örtlichen Wodka-Fabrik, wo sie zwischen endlos klappernden Flaschen und endlos plappernden Kolleginnen am Band steht und träumt, Fernsehstar zu werden. Rund tausend Kilometer sind es von Zhigulyovsk, dem tristen Provinznest, nach Moskau; wie Tschechows Schwestern wünscht sich Valya immerzu dorthin. Wenn nur ihr Sohn Danila nicht wäre, den sie zurücklassen müsste; immer häufiger schiebt sie ihn zu ihrer Mutter ab.

Die Kamera, so steht es schon im Katalog zu lesen, ist den Menschen immer einen Schritt voraus in diesem Film - ein sicheres Indiz, dass Vodka Factory des in Schweden lebenden Polen Jerzy Sladkowski nicht nach der reinen Lehre des Direct Cinema entstand. Vor zehn oder fünfzehn Jahren wäre die Methode gewagt gewesen, heute sind Inszenierungen im Dokumentarfilm gang und gäbe.

Die schillernde Heldin

Wenn sich nun Valya großäugig selbst als Hauptdarstellerin einer Dokusoap in Szene setzt, dann ist das deshalb so anrührend, weil die ansonsten talentlose junge Frau die Rolle ihres Lebens spielt. In Sladkowskis Film ist sie die schillernde Heldin: eine schlechte Mutter und Visionärin, schön und strahlend allein durch ihr Vermögen, etwas anderes als den Status quo überhaupt zu denken.

In einem ansonsten eher schwachen internationalen Wettbewerb beim 53. Dokumentarfilmfestival Leipzig wurde Vodka Factory völlig zu Recht mit der Goldene Taube ausgezeichnet. Spannend wurde es bei diesem Festival immer da, wo sich das Politische und das Allerprivateste begegneten.

Was, wenn Valya in Zhigulyovsk geblieben wäre? Indem Sladkowski ausführlich ihre Mutter und Kolleginnen zu Wort kommen lässt, wird eine Region ohne Perspektive präsent, in der Alkoholismus die Regel ist, Männer im Suff ihre Frauen schlagen, Kinder ohne Väter aufwachsen und von überforderten Müttern so schlecht behandelt werden, dass auch diese Kinder zu saufenden, schlagenden Männern und saufenden, geschlagenen Frauen werden. Die Wodka-Fabrik mit ihrem hoffnungslosen Geklapper wird zur Metapher für ein ganzes Land.

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Kein Gespür für Realität

In diesem Film ist sie geglückt, die Poetisierung des Wirklichen, die viele Filme im internationalen Wettbewerb anstrebten. Ob ein Film nun viertel- oder halbinszeniert ist, ist dabei nicht die Frage. Bei manchen Arbeiten aber kam vor lauter Kunst- und Gestaltungswillen das Gespür für die Realität abhanden.

Jacques Perrin etwa ("Nomaden der Lüfte", "Unsere Ozeane") verwandelt mit Éric Deroo in L'empire du milieu du sud die Geschichte Vietnams in eine ästhetisch überwältigende Symphonie, der die Fähigkeit zur Analyse im überschwappenden Fluss der Bilder und dem dröhnenden Konzert vieler Stimmen schnell verlorengeht.

Das Gegenprogramm dazu: Gaza crève l'écran (Gaza on Air) von Samir Abdallah, der Schreckensbilder palästinensischer Kameramänner von der Bombardierung von Gaza-Stadt Ende 2008 mit ausführlichen Interviews mit diesen Journalisten verbindet. Das Ergebnis ist leidenschaftlich parteiisch, eine schreiende Klage und Anklage, die sich nicht so leicht überhören lässt wie die üblichen wohltemperierten Nachrichten. Hier ist die fehlende Analyse provozierend und deshalb kein Mangel.

40 Quadratmeter Deutschland

Festivalleiter Claas Danielsen stellte Gaza on Air persönlich vor, gewissermaßen als Ausweis seiner Haltung. Angesichts einer durchformatierten Fernsehlandschaft kann man die entschiedene ästhetische wie politische Haltung der Festivalmacher bei der Programmauswahl nur bewundern.

Die Auseinandersetzung selbst mit weniger gelungenen Filmen war meistens fruchtbar: mit dem Zorn in Gaza on Air oder der Melancholie in Titus Faschinas fast sprachlosem Dem Himmel ganz nah, dem einzigen deutschen Beitrag im internationalen Wettbewerb. In schwarz-weißen Panoramabildern wird darin die fast verschwundene Welt einer Schafzüchterfamilie in den Karpaten konserviert. Das Sujet ist wenig originell, die Inszenierung aber so archetypisch gültig wie bei August Sander.

Überzeugender noch als der Internationale Wettbewerb war in diesem Jahr in Leipzig die deutsche Reihe. Mit einer Goldenen Taube wurde Gereon Wetzels und Jörg Adolphs mitreißender How to Make a Book with Steidl ausgezeichnet (SZ vom 22.10). Unbedingt sehenswert ist auch Wir sitzen im Süden, ein Dokument der Globalisierung. Darin geht es um in Deutschland geborene Türken, die unfreiwillig wieder in der Türkei leben und dort in einem deutschsprachigen Callcenter arbeiten. Grotesk, wie sie in den Hörer schwäbeln und sich daheim ihre "40 Quadratmeter Deutschland" konservieren, wie einer witzelt. Auf der Suche nach Geborgenheit und Identität wird Deutschland zum Sehnsuchtsort - Sarrazin dürfte schwindlig werden bei so viel hoffnungslosem Integrationswillen.

Verschleppte Konflikte

Bei der Preisvergabe ging Martina Prießners präziser, konzentrierter Film leider leer aus, dabei stecken all die unterschwelligen Themen dieses 53. Leipziger Dokumentarfilmfestivals darin: die Generationenkonflikte - manche der Deutsch-Türken wurden von ihren Eltern regelrecht verschleppt-, die hoffnungslose Leidenschaft vieler Protagonisten und ihre Melancholie. Außerdem das - zutiefst demokratische - Interesse für die vielen Provinzen dieser Welt.

Wie das Globale und das Regionale zusammenhängen, ließ sich exemplarisch in There Once Was an Island von Briar March studieren. Über drei Jahre hinweg begleitet ihr Film die Bewohner des Pazifik-Atolls Nukutoa, deren Insel langsam im Meer versinkt. Es ist die alte Klimawandel-Geschichte vom Eisbären, dessen Scholle schmilzt, die hier allerdings so unsentimental und packend erzählt wird, dass sie frisch ans Herz geht. Ist ja nicht viel, was da untergeht, 500 Meter Sand - und eine ganze Kultur. Da kann man schon mal kalte Füße bekommen

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