Süddeutsche Zeitung

Filmfestival:Durchboxen

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Drei Filme auf dem Dok-Fest beschäftigen sich mit jungen Menschen, die um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen. Beim TSV 1860 München steht ihnen dabei der ehemalige Sportprofi Ali "Löwenherz" als Trainer zur Seite

Von Anna Steinbauer

Ali hat ein Löwenherz. Er ist nicht nur Boxtrainer beim TSV 1860 München. Für die Jugendlichen, die er trainiert ist er Vaterfigur, Vertrauensperson und Ansprechpartner in sämtlichen Lebenslagen. In einer kleinen Halle mitten im gentrifizierten Glockenbachviertel treffen sich junge Menschen, die aus schwierigen Verhältnissen kommen oder mit Schicksalsschlägen fertig werden müssen. Bei Ali können sie für eine Weile in einen geschützten Raum eintauchen und sich abreagieren, ihre Wut in positive Energie umwandeln. Antje Drinnenberg begleitet in "Lionhearted - Aus der Deckung" den ehemaligen Boxprofi, der als Sohn türkischer Gastarbeiter in München aufgewachsen ist, bei seiner Arbeit und zeigt, mit welch unglaublichem Einsatz und Verständnis der Trainer den Jugendlichen nicht nur Technik, Ausdauer und Strategie beibringt. Er hat stets ein offenes Ohr für ihre Probleme, spornt sie an und gibt ihnen das nötige Selbstbewusstsein, das sie benötigen, um ihre Leben zu meistern.

Denn Boxen kann Leben verändern, da ist sich Ali sicher. Boxen bedeutet nicht aufzugeben, sich Herausforderungen zu stellen, immer weiterzumachen, lernen, sich zu kontrollieren. Burak, Saskia, Abu und Raschad haben alle ihr Päckchen zu tragen. Ob der Verlust des Vaters, eine kriminelle Vergangenheit oder Fluchterfahrungen - im Boxclub bei den Löwen kämpfen sie um ihren Platz in der Gesellschaft. Boxen heißt vor allem auch schnell sein und vermeiden, getroffen zu werden. Das gilt im Ring genauso wie in der Realität: Problemen aus dem Weg gehen ist besser als einfach drauflos zu schlägern. So hart das Leben der jungen Menschen auch ist, es gibt immer andere, die es noch schwerer haben. Das ist eine von Alis wichtigsten Lektionen. Deshalb hat sich der Boxtrainer ein besonders Reiseziel für das alljährliche Trainingscamp ausgedacht: Ghana. Dort begegnen die Boxlöwen ihren afrikanischen Kollegen und stellen fest, dass sie sich in Sachen Kondition und Kampfgeist einiges von ihnen abschauen können. Egal ob in Deutschland oder in Afrika: Der einfühlsame Film zeigt, wie wichtig Orte sind, an denen junge Menschen Struktur und Halt bekommen und Gemeinschaft lernen können. Genau so muss Integration funktionieren (14. Mai, 9.30 Uhr, City).

Mit welchen Methoden man in Deutschland versucht, junge, aus dem System gefalle Menschen zu re-integrieren, zeigt der Dokumentarfilm "Out of Place". Dieser porträtiert drei jugendliche deutsche Straftäter, die in einem pädagogischen Erziehungsprojekt in Rumänien landen, um sie dort fern von der Heimat wieder gesellschaftstauglich zu machen. Sie werden bei Familien einquartiert, wo sie in bäuerlichen Strukturen leben und gezwungen sind, sich in die fremde Umgebung einzufügen. Sozialarbeiter überwachen ihre Entwicklungen in einem strikten Bewertungssystem und entscheiden darüber, ob und wann die jungen Menschen bereit dafür sind, nach Deutschland zurückzukehren. Was genau Kevin, David und Dominik angestellt haben, wird in diesem aufwühlenden Film nicht thematisiert. Die Kamera ist ganz nah bei den Rebellen, ist zugleich Projektionsfläche und Selbstdarstellungsplattform. Den jungen Männern wird immer wieder signalisiert, Rumänien sei ihre einzige und letzte Chance. Kann man sie durch strikte Regeleinhaltung und Disziplin zur Einsicht zwingen? Was bedeutet es, ein normales Leben zu führen? Kann man Integration überhaupt außerhalb des Systems lernen? Die Doku offenbart einen zwiespältigen Blick auf den deutschen Umgang mit Straftätern, der unliebsame Personen lieber outsourct, als sich um Integration vor Ort zu bemühen (14. Mai, 17 Uhr Rio; 15. 5., 11 Uhr, HFF; 17. 5, 19.30 Atelier).

Der Dokumentarfilm "Another Reality" spiegelt diesen Blick der Außenseiter, die sich allerdings in einer Parallelgesellschaft innerhalb von Deutschland befinden, wo sie sich als Nachkommen der zweiten und dritten Generation von Migranten in ihren eigenen Kreisen abschotten. Der unterhaltsame Film (13. Mai, 21.30 Uhr, HFF; 16. Mai, 21 Uhr und 18. Mai, 14.30 Uhr, Atelier) folgt dem Alltag einiger Großstadtgangster, die ihren krummen Geschäften nachgehen und sich in ihrer Welt, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert, wie auf einer Bühne bewegen. Vom deutschen Staat sind sie enttäuscht und empfinden sich als nicht zugehörig und einmal mehr wird das unglaubliche Versäumnis nicht erfolgter Integration sichtbar. Einen Ali hätten all diese jungen Männer auch gebraucht

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Quelle:
SZ vom 13.05.2019
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