Filmfestival Cannes: Lars von Trier:Von Nachtfaltern zerfressen

Cannes gebiert Monster: Regisseur Lars von Trier verstört beim Filmfestival nicht nur mit seinem neuen Film "Melancholia" - sondern auch mit bizarren Nazi-Bekenntnissen und einem Schimpfwort-Tattoo auf den Fingern.

Tobias Kniebe

Verzeihung, falls das alles gleich keinen Sinn ergibt. Aber so ist das eben, wenn man im Dunkeln nach Bildern giert und doch längst übersättigt ist, wenn man nach draußen flieht und die Sonne brennen lässt, mit Champagner auf leerem Magen, wenn die Nächte gnädig sind und die Vernunft in den Schlaf wiegen. Die Schutzschichten bröckeln, das Unterbewusstsein liegt bloß, man kämpft noch, man klammert sich an Erklärungen, der Leser! ruft gellend das Über-Ich, man hebt schützend die Hand und sieht kleine blaue Flammen, die aus den Fingern in Richtung der Leinwand züngeln, Elmsfeuer nennt man das, Lars von Trier lacht diabolisch in Dolby Surround und verkündet, dass er Hitler verstehe und dass er ein Nazi sei ... und dann wird alles weiß.

Filmfestival Cannes: Lars von Trier: Andere mögen sich in Cannes im schicken Designerkleid zeigen, Lars von Trier präsentiert lieber ein obszönes Tattoo. Eigentlich will er aber seinen Film "Melancholia" vorstellen.

Andere mögen sich in Cannes im schicken Designerkleid zeigen, Lars von Trier präsentiert lieber ein obszönes Tattoo. Eigentlich will er aber seinen Film "Melancholia" vorstellen.

(Foto: AFP)

Woran erinnern wir uns? Was haben wir gesehen, was nur geträumt? Unmöglich zu sagen in diesem Moment. Kirsten Dunst hat uns angestarrt, leichenblass, aus halbgeschlossenen Augen. Gott, wie sie starren konnte. Tote Singvögel fielen vom Himmel, unendlich langsam, hinter ihr. Richard Wagner dröhnte dazu, "Tristan und Isolde", die Ouvertüre. In der Nacht nahm Kirsten ein Mondbad, splitternackt am Fluss. Gott, war ihr Körper schön. Am Himmel stand ein fremder Planet und ließ ihn leuchten und phosphoreszieren, während unter der Haut schon die Würmer rumorten, so kurz vor dem Ende der Welt. Der Planet hatte einen Namen. Er hieß wie der Film, "Melancholia", ein Beitrag des Landes Dänemark im Wettbewerb von Cannes. Wenigstens das haben wir schwarz auf weiß.

Aber der Rest? Dieser prachtvolle schwarze Araberhengst mit dem glänzenden Fell, der auf den Namen Abraham hörte: Haben wir ihn wirklich ganz langsam zu Boden stürzen sehen, während Nordlichtfeuer über den Nachthimmel fegten? Dieser Golfplatz in Schweden mit dem glitzernden Meer im Hintergrund: Versank man tatsächlich bis zu den Knien im Schlamm, wenn man den Rasen betrat? Und diese Nachtfalter, die zu Tausenden um die aschfahle Braut flatterten - fraßen sie wirklich das Bild von den Rändern her auf, genau wie unser Gehirn? Cannes in diesem Jahr, dachten wir noch, ist das Jahr der großen Bildsymphonien, begleitet von klassischer Musik. War da nicht noch ein anderer Film, der das versucht hat, indem es um den Menschen und die kosmische Ordnung ging, um Leben und Tod? So war es, bevor die Motten kamen.

Seither gibt es nur noch Bruchstücke, Bilderfetzen, seither ist alles im Fluss. Naomi Kawases Film "Hanezu" zum Beispiel muss eine japanische Dreiecksgeschichte gewesen sein, zwei Männer und eine Frau, aber beschwören können wir das nicht. Weil die beiden Männer exakt gleich aussahen und in waldiger Bergwelt praktisch nichts gesagt haben. Nur das finale Bild ist noch da, ein Toter in einer blutgefüllten Badewanne. Warum er sterben musste? Wir werden es nicht mehr erfahren - und wir würden nicht darauf wetten, dass der Film es selber wusste.

Oder dieses andere Bild, dass den Anschlag des Lars von Trier überlebt hat, aus dem Film "Code Blue" von Urszula Antoniak: Lars Eidinger, Schauspieler für Theater und Film, Jahrgang 1976, Wohnort Berlin, schwenkt seinen Schwanz und schlägt eine halbverhungerte Frau. Vielleicht war es auch nur eine Schwanzattrappe, und vielleicht war die Frau eine Schauspielerin, die absichtlich nichts mehr gegessen hat, um existenziellem weiblichen Selbsthass eine Form zu geben. Der Film, warnte noch ein Zettel am Eingang, könne unsere Gefühle verletzen. Aber ach, nur zu, nur keine Hemmungen! Es tut doch schon lang nicht mehr weh.

Im Morast der deutschen Romantik

Cannes gebiert Monster, das kennen wir schon. Oder besser gesagt, das Kino gebiert sie, übers Jahr werden sie gezeugt und wachsen heran, und dann strömen sie herbei aus allen fünf Richtungen des Drudenfußes, zum Hexensabbat an der Croisette. Magier wie Lars von Trier beherrschen sogar die Kunst, sich als ganz normale Filmerzähler zu tarnen. Denn nein, nicht jedes Bild in "Melancholia" war ein surreales Gemälde, nicht jede Einstellung ein Vanitas-Motiv. Es muss da zwischendrin auch einen Film gegeben haben. Eine Hochzeit kam vor, und die Braut war Kirsten Dunst, und ihre Verwandten und Gäste waren ein Who-is-Who der internationalen Schauspielkunst: Charlotte Gainsbourg, John Hurt, Kiefer Sutherland, Charlotte Rampling, Alexander und Stellan Skarsgard, Jesper Christensen, Udo Kier.

Sie alle wollten eigentlich nichts anderes, als Kirsten Dunst glücklich machen, und Kirsten Dunst wolle nichts anderes, als glücklich sein. Aber es war der Wurm drin, beziehungsweise eine unendliche Traurigkeit, und sie wusste nicht, was soll es bedeuten, und es ergriff sie ein wildes Weh, das nicht wieder gehen wollte. Dafür gingen die Gäste. Man kann verstehen, warum man Lars von Trier an diesem Punkt mal nach seinen deutschen Wurzeln fragen muss, aber es sind trotz seiner irren Nazi-Bekenntnisse später auf der Pressekonferenz dann eben doch keine Naziwurzeln. Der Morast, in dem er hier versinken will, ist der Morast der deutschen Romantik.

Im zweiten Teil geht dann schlicht und einfach die Welt unter, aber das ist kein Geheimnis, das wird schon am Anfang angekündigt. Es wird eine Erfahrung von atemberaubender Schönheit und Intensität, wobei die traurige Kirsten Dunst natürlich in ihrem Element ist, und der Regisseur sowieso, ein Supermelancholiker vor dem Herrn oder nach dem Herrn oder meinetwegen auch ganz allein in einem mitleidslosen Universum.

Wir wissen nicht mehr, wie wir nach dem großen Whiteout zum Hotel und zum Computer kamen, aber da war noch eine Möwe, die ungerührt in der Einfahrt zu einer Tiefgarage saß, mitten auf der Fahrbahn, und von den Passanten ob ihrer Grausamkeit beschimpft wurde. Sie zerrte am Flügel eines halbtoten Singvogels, den sie unter ihrer Klaue hielt, und pickte nach Blut.

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