Süddeutsche Zeitung

Filmfestival Cannes:Kampf um die Zukunft des Kinos

Zu Beginn des Filmfestivals von Cannes haben sich die Verantwortlichen mit dem Streamingdienst Netflix überworfen. Es geht um die große Frage, wer die Filmgeschichte weiterschreiben wird.

Von Tobias Kniebe

Wie schafft man es, in die Filmgeschichte einzugehen? Das ist die gar nicht so geheime Frage, die bei einem Festival wie Cannes alle umtreibt, ganz gleich, ob sie als ernste Künstler gelten oder doch eher als leichtgewichtige Glücksritter. Bevor die 71. Edition der legendären Filmschau an diesem Dienstabend losgeht, hat sich das Thema aber noch mit zusätzlichem Drama aufgeladen.

"Wer Teil der Filmgeschichte werden will, muss durch die Filmtheater gehen", hat Festivalchef Thierry Frémaux in einem Interview verkündet - und die Wege zum Ruhm geradezu lyrisch ausgeschmückt. "Er muss an den Kassenhäuschen vorbei, an den Kritikern, an den leidenschaftlichen Kinogängern, er muss in Preisverleihungskampagnen auftauchen, in Büchern, Katalogen, Filmografien, in den kollektiven Diskussionen in den Cafés, in den Kinofoyers, im Radio. Aus all diesen Traditionen wird Filmgeschichte geformt."

Was aber treibt den Mann zu solchen Grundsatzreden? Der Anlass ist tatsächlich eine Art Kampf um die Zukunft des Kinos, der in diesem Jahr hinter den Kulissen ausgetragen wird.

Das Stich- und Reizwort heißt Netflix. Frémaux hatte im vorigen Jahr zwei Originalproduktionen des Streaming-Giganten ins Allerheiligste seines Festivals eingeladen, in den offiziellen Wettbewerb - "Okja" des Südkoreaners Bong Joon-ho und "The Meyerowitz Stories" des New Yorkers Noah Baumbach. Diese waren dann wenig später schon auf dem Streamingdienst zu sehen, kaum aber in den Kinos der Welt, und schon gar nicht, wegen strenger gesetzlicher Bestimmungen, in den französischen. "Traurigerweise haben diese schönen Filme in Frankreich und im Bewusstsein der Filmliebhaber nicht existiert", sagt Frémaux. "Sie gingen in den Algorithmen von Netflix verloren."

Soll heißen: Sie könnten heute schon Teil der Filmgeschichte sein, aber sie sind es nicht, weil sie keine Chance hatten. Das kann und darf nicht sein, und es schädigt auch den Anspruch von Cannes. Weswegen Netflix-Produktionen in diesem Jahr aus dem Wettbewerb und den Nebenreihen verbannt sind. Ted Sarandos, Netflix' mächtiger "Chief Content Officer", verstand das allerdings als direkten Angriff, als Aufruf an die Filmemacher der Welt, das schwarze Loch seiner Streaming-Algorithmen in Zukunft lieber zu meiden. Seine wütende Reaktion: Dann läuft eben gar nichts von uns in Cannes, nicht einmal außer Konkurrenz in Spezialvorstellungen.

Die Programm-Highlights 2018

Eröffnet wird das Festival am Dienstagabend von dem iranischen Filmemacher und zweifachen Oscarpreisträger Asghar Farhadi. Er zeigt seinen Thriller "Everybody Knows" mit Penélope Cruz und Javier Bardem in den Hauptrollen.

Nach siebenjähriger Zwangspause darf der Stammgast Lars von Trier zurück an die Croisette. Er hatte 2011 auf einer Pressekonferenz verkündet, er sympathisiere "ein bisschen" mit Hitler. Alles Satire, behauptete er hinterher, das Festival fand's nicht so lustig. Nun das Comeback, außer Konkurrenz läuft sein Serienkillerdrama "The House That Jack Built" mit Matt Dillon und Bruno Ganz.

Aus Deutschland sind Wim Wenders mit der Doku "Papst Franziskus - ein Mann seines Wortes" vertreten (außer Konkurrenz) sowie Ulrich Köhler mit dem Drama "In My Room", das in der Reihe "Un Certain Regard" läuft. Auch Disney darf mit einem Blockbuster nach Südfrankreich. Gezeigt wird "Solo: A Star Wars Story" von Ron Howard.

Im Wettbewerb sind wie immer diverse große Namen des Autorenfilms vertreten, es laufen unter anderem Filme von Spike Lee, Alice Rohrwacher und Kirill Serebrennikow.

Und dann wäre da noch die Sache mit dem Abschlussfilm. Terry Gilliam soll seine Tragikomödie "The Man Who Killed Don Quijote" zeigen. Das Projekt gilt als verflucht, seit Jahrzehnten versuchte er, es umzusetzen, Darsteller erkrankten, Kulissen gingen im Sturm unter, Finanziers sprangen ab. Nun hat er den Film fertig - aber wird von Produzent Paulo Branco verklagt, der in die Entstehung involviert war, alte Rechte verletzt sieht und die Premiere verhindern will. Eine Gerichtsentscheidung, ob der Film am 19. Mai gezeigt werden kann, steht noch aus.

David Steinitz

Was wiederum kein Problem wäre, würde Netflix nicht inzwischen einen Teil seines gigantischen Acht-Milliarden-Dollar-Einkaufsbudgets (allein für 2018) in beinharte Filmkunst investieren, die Cinephilen das Wasser in die Augen treibt. Zum Beispiel in die posthume Fertigstellung der sagenumwobenen letzten Regiearbeit des Hollywood-Giganten Orson Welles. "The Other Side of the Wind" heißt das Ding, von dem bisher nur vierzig Minuten im Rohschnitt existierten und jede Menge zwar abgedrehte, aber nie montierte Szenen. Frank Marshall hat das Material nun mit diversen Oscargewinnern zu Ende geschnitten, und die Weltpremiere dieses Cineasten-Ereignisses hätte - wo sonst - in Cannes stattfinden können.

Daraus wird nun nichts. Wie auch aus weiteren Screenings von mit Spannung erwarteten Netflix-Filmen. Alfonso Cuaróns mexikanische Familienchronik "Roma" etwa oder Paul Greengrass' "Norway", eine Filmbiografie des norwegischen Massenmörders Anders Breivik. Wenn es derart schmerzliche Opfer gibt, kann man dann nicht sogar von einem Krieg sprechen? Oder ist das Ganze doch eher von eine Tragödie im klassisch-griechischen Sinn, mit der unvermeidlichen Kollision zweier Grundsätze, die beide Gutes enthalten?

Netflix und Ted Sarandos sehen sich ja nicht zu Unrecht als große Förderer der Filmkunst. Sie geben Geld für Ideen, die sich sonst niemand leisten würde. Der Plan der Orson-Welles-Rekonstruktion etwa geistert schon seit Jahrzehnten durch die Kinematheken der Welt, nicht zuletzt in München, aber ohne Netflix fehlten bisher die Mittel. Und es ist wahr, dass die Firma ihren Künstlern kaum reinredet und wesentlich entspannter agiert als Hollywood-Studios, was Zielgruppen und Marketing betrifft. Netflix kämpft auch nicht per se gegen die Existenz von Kinosälen mit großer Leinwand - ihr Überleben scheint der Firma nur eben herzlich egal zu sein.

Dagegen machen seit dem vorigen Jahr die französischen Filmtheater mobil, unterstützt von den französischen Politikern, die schon immer gern Regularien zum Schutz ihrer Traditionen erfunden haben. So bleibt ein Film, der in Frankreich im Kino lief, drei Jahre lang von Plattformen wie Netflix ausgeschlossen. Auf diese absurd lange Wartezeit können wir uns nicht einlassen, sagen die Netflix-Leute zu Recht, aber ist diese beinharte Regulierung unsere Schuld? Nein, das haben sich andere ausgedacht, die den französischen Lichtspielhäusern etwas besonders Gutes tun wollten. Die große Frage ist, ob der Effekt für die Besucherzahlen wirklich so positiv ist.

Das Festival von Cannes steht hier nur an der Front eines größeren Kräftemessens, von dem man nicht weiß, wie es ausgehen wird. In einem Punkt aber hat Thierry Frémaux recht. Das Netflix-Serienereignis, das von Woche zu Woche größere Kreise zieht und die sozialen wie auch die klassischen Medien erfasst, gibt es sehr wohl. Ein Netflix-Filmereignis aber, das eine Premiere feiert und eine große Gemeinde von Cinephilen zugleich erfasst, hat sich trotz eindrucksvoller Starnamen im Netflix-Programm noch nicht recht manifestiert.

Kann das noch kommen, wenn sich die Traditionen wandeln? Oder wenn man an einem Ereignis gar nicht mehr vorbeikommt? Etwa wenn Martin Scorsese und Robert De Niro sich exklusiv für Netflix wiedervereinigen, in dem für 2019 geplanten Film "The Irishman"? Vielleicht. Aber möglicherweise bleibt das Einlasstor zur Filmgeschichte, das Frémaux so wortreich beschworen hat, trotz allem und für immer der Eingang zum großen Filmpalast um die Ecke. Dieser Meinung ist zum Beispiel der Starregisseur Christopher Nolan, der Cannes in diesem Jahr auch beehrt. Er wird die Rekonstruktion von Stanley Kubricks "2001" vorstellen, der 1968 zum Prototyp eines leinwanderschütternden, geschichtsträchtigen Kinoevents wurde.

Wer recht behält, das werden am Ende die Zuschauer entscheiden - und das, was sie über die zwei Stunden Filmzeit hinaus umtreibt, bewegt, ins Gespräch bringt. Klar scheint jedenfalls eines zu sein: Orson Welles, dieser ewig auf Geldsuche befindliche Pionier und Unruhestifter, der ein großer Vorreiter des unabhängigen Kinos wurde, hätte sich in dem Konflikt sicher auf Netflix' Seite geschlagen. "Ich werde Filme machen", hat er einst in einem Interview mit dem Regiekollegen Peter Bogdanovich erklärt. "Und ich werde sie herstellen für jedes Bildformat, das sich anbietet.

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SZ vom 08.05.2018/doer
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