Filmfestival Cannes:Geld oder Kollegialität

Fabrizio Rongione und Marion Cotillard in "Deux jours, une nuit"

Sehr bald geht es hier um alles: Fabrizio Rongione (links) und Marion Cotillard in "Deux jours, une nuit".

(Foto: Christine Plenus)

Die Gebrüder Dardenne gelten als die heimlichen Könige von Cannes - auch ihr neuer Film ist Hoffnungsträger in einem Wettbewerb fast ohne dringliche Themen: "Deux jours, une nuit" zeigt den alltäglichen Druck im Kapitalismus. Marion Cotillard als junge Mutter kämpft um ihren Job.

Von Tobias Kniebe

Natürlich soll es am Ende um alles gehen. Um den Einzelnen, um die Gesellschaft, um alle Widersprüche der menschlichen Existenz. Die meisten Filmemacher im Cannes-Wettbewerb haben diese Ambition. Aber sie haben auch die Tendenz, ihre Geschichten dabei ins Extrem zu treiben. Ein junger Mann verkauft sein eigenes Kind, weil man ja ganz leicht ein neues machen kann. Oder: Ein Schreiner entdeckt, dass sein neuer Lehrling der Mörder seines Sohnes ist. Das setzt gewaltige Erzählenergien frei, erlaubt aber auch eine bequeme Distanzierung. Denn wem passiert so was schon wirklich?

Zwei Beispiele aus dem Werk des belgischen Brüderpaars Jean-Pierre und Luc Dardenne, die so etwas wie die heimlichen Könige des Festivals von Cannes sind - zweimal haben sie schon die Goldene Palme gewonnen, den höchsten Preis der internationalen Festivalszene, für "Rosetta" (1999) und für "L'Enfant/Das Kind" (2005). Und doch entwickeln sie sich weiter, hin zu immer noch größerer Klarheit, Einfachheit, Stringenz. "Deux jours, une nuit", ihr neuer Film, braucht in seiner Anlage keinerlei Extreme mehr - und doch geht es sehr bald um alles.

Sandra, gespielt von der französischen Oscar-Gewinnerin Marion Cotillard, ist eine junge Mutter mit zwei Kindern, einem liebevollen Ehemann, einem Haus in der Vorstadt, für dessen Ratenzahlungen sie beide hart arbeiten müssen. Sandra ist eine Weile ausgefallen, mit einer leichten Depression. Aber auch bei ihrem Arbeitgeber läuft es nicht gut. Der Wettbewerb mit China sei hart, sagt der Chef, und mehr muss er gar nicht sagen. Jeder weiß, wie es um die Solartechnik steht.

Zwei Tage und eine Nacht voller Verzweiflung

Der alltägliche Druck des Kapitalismus, den jeder kennt. In Sandras Team von sechzehn Leuten führt er zu einer demokratischen Abstimmung: Falls die Mehrheit bereit ist, auf den ihr zustehenden Bonus von 1000 Euro zu verzichten, wird Sandra ihren Job behalten - andernfalls verliert sie ihre Stelle im Unternehmen. Ihr bleibt ein Wochenende, ihre Kollegen aufzusuchen, zu bitten, zu betteln, um ihre Arbeit und damit um ihre Existenz zu kämpfen. Zwei Tage und eine Nacht, voller Verzweiflung, menschlicher Kälte, Erniedrigung, Selbstmordgedanken - aber eben auch voller Solidarität, Freundschaft und energischem Kampfeswillen.

Und so simpel das klingt - dank der Entschlossenheit der Dardenne-Brüder, Sandras Perspektive einzunehmen und niemals von ihrer Seite zu weichen, wird diese Bitt-Tour nicht weniger bedeutsam sein als der Kampf in Spielbergs "Lincoln" um die Wählerstimmen zur Abschaffung der Sklaverei. Oder der Kampf Gary Coopers um ein paar Verbündete gegen das Böse, in "High Noon/Zwölf Uhr mittags". Weil es für Sandra so ist. Und weil die Kollegen, die sie besucht, selbst kämpfen - mit Verpflichtungen, gescheiterten Hoffnungen und Gewissensbissen: Ein Vater stellt sich gegen seinen Sohn, eine Frau verlässt wegen dieser Entscheidung ihren Mann, ein junger Kollege bricht weinend zusammen.

Jenseits des Denkhorizonts

Filmfestival Cannes: Die Regisseure Jean-Pierre (links) and Luc Dardenne (rechts) mit Schauspielerin Marion Cotillard in Cannes.

Die Regisseure Jean-Pierre (links) and Luc Dardenne (rechts) mit Schauspielerin Marion Cotillard in Cannes.

(Foto: AFP)

Was sie alle aber nie thematisieren, was ganz jenseits des Denkhorizonts dieser Menschen liegt, ist die viel größere Frage: Hat jemand überhaupt ein Recht, Menschen vor eine solche Alternative zu stellen, Geld oder Kollegialität? Könnten nicht alle gemeinsam kämpfen, so dass niemand verzichten muss?

Das wäre die übliche Gewerkschaftsrhetorik, die gleich alles auf einmal will. Doch daran glaubt hier tatsächlich niemand mehr, auch nicht die Filmemacher selbst. Jean-Pierre und Luc Dardenne sind wieder einmal harte Realisten. Die üblichen Auswege in die Phantasie, die das Kino sonst so gern bereithält, erlauben sie ihrer Protagonistin Sandra nicht - und lassen sie doch im Kampf eine ganz neue Stärke finden.

Dringlichkeit gesucht

In einem Wettbewerb, der bisher schon deutlich gegen das starke Jahr 2013 abfällt, der zu zähen Austattungsstücken neigt und an allen Ecken und Enden eine gewisse Dringlichkeit vermissen lässt - da ist "Deux jours, une nuit" schon wieder der mit Abstand plausibelste Kandidat für den Hauptpreis - zumindest nach dem aktuellem Stand.

Vor allem die Briten schwächelten, auch das William-Turner-Biopic von Mike Leigh - der ließ zwischendrin doch sehr den genialischen Pinselschwung vermissen. Mit Nuri Bilge Ceylans "Winter Sleep" könnte man noch einmal die Langsamkeit entdecken und den Ennui des reichen türkischen Kulturbürgertums, das scheinbar noch Zeit für endlose Dialogszenen hat - aber auch das keine wirklich packende Option.

Und die Japanerin Naomi Kawase, schon lange ein Liebling des Festivals, hat sich zwar mit ihrem "Still The Water" gleich selbst ins Spiel gebracht - aber dieser Mensch-in-der-Natur-Film ächzt geradezu unter der Anstrengung, ein Meisterwerk sein zu wollen und ist am Ende vielleicht einfach nur Kitsch. Dafür fällt jetzt überall das böse Wort von der "Quotenfrau" - die Kehrseite jener Debatte, in der es um den Vorwurf geht, der Blick der Cannes-Macher auf die Filmkunst sei allzu männerbündlerisch verzerrt.

Wenn man so anfängt, dürfte man den Dardenne-Brüdern natürlich auf keinen Fall die Goldene Palme zusprechen - wer schon zwei davon hat, muss andere vorlassen. Sollte die Jury um Jane Campion allerdings von dem Impuls getrieben sein, sich triumphal über diese und alle anderen Quotendebatten hinwegzusetzen, gerade mit einer weibliche Jurypräsidentin an der Spitze - dann wäre ein Triple der Dardennes natürlich auch wieder ein starkes Zeichen.

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