Süddeutsche Zeitung

Filmfestival Cannes:Filmische Verzweiflungstaten

Gibt es in Cannes eigentlich noch das Kino, das ganze Säle füllt? Neue Wettbewerbsfilme von Jean-Luc Godard und mit Javier Bardem.

Tobias Kniebe

Natürlich ist immer eine Art von Ungeduld zu spüren. In Cannes werden Filme gekauft und verkauft, Märkte erobert, Palmen gewonnen, Karrieren gemacht. Letztlich aber kommen viele tausend Menschen doch nur mit einem Ziel - zu sehen, was das Weltkino Neues und Spannendes zu bieten hat. Das ist das implizite Versprechen. Wenn dann das erste Wochenende vorübergeht und das Weltkino keine Anstalten macht, seinen Teil des Deals zu erfüllen, wird die allgemeine Stimmung ein wenig angespannt.

Das wiederum scheint sich jetzt in eigenartiger Weise auf die Filme selbst zu übertragen. Sie scheinen unter Druck zu stehen - zum Beispiel "Outrage" von Takeshi Kitano. Der Mann ist für den japanischen Yakuzafilm das, was Clint Eastwood für den Italowestern war - eine Verbindung, die ebenso natürlich wie unausweichlich erscheint, und von der man trotzdem nie genug bekommen kann.

Echsenartige Gangster, die sich gegenseitig belauern, Höflichkeiten austauschen, sich tief verbeugen, bis sie dann urschreiartig losbrüllen und mit blitzartiger Gewalt übereinander herfallen - das hat Kitano schon in Meisterwerken wie "Sonatine" oder "Hana-Bi" wie kein anderer gezeigt.

Hier geht es nun aber um die Mutter aller Bandenkriege zwischen einem halben Dutzend Mafiafamilien im Großraum Tokio. Dabei zieht Kitano die Schraube der Gewalt derart an, dass man sich intensiv schon wegduckt, wenn im Dialog ein Körperteil auch nur erwähnt wird: kein Finger, der nicht unabgeschnitten, keine Zunge, die undurchbissen, kein Körperteil, das unversehrt bliebe. Das trägt immer noch große Momente einer unausweichlichen, tragischen Eskalation in sich, auch Augenblicke bösen, befreienden Humors - ingesamt ist der Film aber doch die beinah komische Verzweiflungstat eines Mannes, der versucht, sich selbst um jeden Preis noch einmal zu übertreffen.

Ähnlich forciert, aber durchaus noch quälender, wirkt am nächsten Tag "Biutiful" von Alejandro González Iñárritu. Der mexikanische Filmemacher hat diesmal in Barcelona gedreht - offenbar mit dem festen Vorsatz, eine Stadt der Illegalen, der afrikanischen und chinesischen Einwanderer, der Gejagten und Gesetzlosen und korrupten Polizisten zu zeigen, die jede Elendsmetropole der Dritten Welt in den Schatten stellt.

Man sieht das aus der Perspektive des spanischen Kleingangsters Uxbal (Javier Bardem), der ein paar Illegalen einerseits hilft, sie anderseits aber ausbeutet wie alle anderen. Zusätzlich muss er Blut pissen, denn er stirbt langsam an Prostatakrebs. Seine schwer psychotische Frau wird in die Klinik eingewiesen, und er hat keine Ahnung, wer sich nach seinem Tod um seine zwei kleinen Kinder kümmern soll - ein liebender Vater ist er nämlich auch noch.

Vollkommen ratlos

Kurz gesagt, wirkt hier das traditionelle Erzählkino vollkommen ratlos angesichts einer Welt der rapide schwindenden Sicherheiten, worauf auch sonst keiner mehr eine gültige Antwort hat. Da passt es dann, dass der nächste Film gleich von Jean-Luc Godard kommt, der diesen Zustand ja schon seit vielen Jahren als gegeben annimmt. Die Freiheit, trotzdem unbeirrt weiterzumachen, die alle hier so dringend suchen - er hat sie sich längst erobert, und seine Lässigkeit wird heute dringender gebraucht denn je.

Das geht schon damit los, dass "Film Socialisme" ein eher zufälliger Titel ist. Genauso, sagt Godard, hätte es "Communisme" oder "Capitalisme" werden können. Jedenfalls geht es um die großen Entwürfe, die Reise führt wie immer bei ihm zitatenreich und gelehrt in die Geschichte zurück, naturgemäß bis in die Antike, sprich: Richtung Mittelmeer. Sprich weiter: Warum machen wir dann nicht gleich eine Kreuzfahrt? Gesagt, getan.

Der erste Teil des Films spielt jetzt also wirklich auf einem Kreuzfahrtschiff voll echter Passagiere, das Häfen von Casablanca über Odessa bis Neapel ansteuert, gefilmt mit Video, in jeder Qualität und Auflösung. Patti Smith fährt mit, taucht dann aber doch nur gut fünf Sekunden lang auf. Unbekannte Schauspieler deklamieren den unendlichen Bewusstseinsstrom des Meisters, dessen Assoziationsketten man längst nicht mehr folgen kann - man kann sich aber angeregt an ihnen entlangtreiben lassen.

Fundamentales Nein

Wofür das alles im Einzelnen stehen soll, ist unmöglich zu sagen oder nachzuerzählen, im Großen und Ganzen ist es aber klar: Wenn da ein Obersturmbannführer Goldberg plötzlich "Heil Hitler" ruft, Godard eine Szene aus Agnès Vardas letztem Film kommentarlos übernimmt oder die Frage "Quo vadis Europa?" stellt, nur um sie dann auf keinen Fall zu beantworten - dann perfektioniert er einfach die Kunst, nein zu sagen und dabei doch vollkommen locker zu bleiben.

Das erste, fundamentale Nein gilt der Weigerung, den Traum von einem anderen Kino als dem bestehenden jemals aufzugeben. Alle weiteren Neins folgen daraus, das Nein gegenüber dem Selbstbetrug und den falschen Alternativen, und das Nein gegenüber dem, was fast alle anderen machen. Das ist, ohne jede Bitterkeit und ohne jedes Selbstmitleid, längst bis zu Ende gedacht. Wenn Godard also den Philosophen Alain Badiou auf seine Kreuzfahrt einlädt und im ganzen Schiff Zettel aufhängt, die den Touristen einen Vortrag über Husserls Ideen zur Geometrie ankündigen, und dann keine Menschenseele erscheint - dann hält Badiou seinen Vortrag eben vor einem völlig leeren Saal.

Das hat seine Richtigkeit. Es ist lustig und wahr. Denn so berühmt Godard auch ist, seine Filme schaut ja jenseits eines Festivals wie Cannes auch keine Menschenseele mehr an. Dies niemals zu akzeptieren und sich gleichzeitig nicht mehr davon betrüben zu lassen, das ist die Essenz von "Film Socialisme".

Diesem Modell darf Cannes, darf das Weltkino natürlich nicht folgen, denn sonst würde es sich auflösen wie die funkelnden Eiswürfelberge, die hier am frühen Morgen am Strand liegen, ausgekippt aus den Champagnerkübeln der Nacht. Die Suche nach einen anderen Kino, das sich nicht verkrampft, sich nicht selbst betrügt und dennoch nicht vor völlig leeren Sälen spielt, geht also weiter. Die Anspannung bleibt.

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Quelle:
SZ vom 18.05.2010/rus
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