Filmfestival Cannes:Ein saubrutales Stück Kino

71st Cannes Film Festival

Lars von Trier präsentiert in Cannes seinen neuen Film "The House That Jack Built".

(Foto: REUTERS)

Nach sieben Jahren Verbannung ist Lars von Trier zurück in Cannes. Und beweist: Im Genre der unterhaltsamen bis schockierenden Totaldepression ist er immer noch ein unerreichter Meister.

Von David Steinitz, Cannes

Da ist er also. Der dänische Regisseur Lars von Trier, der mit Bart, Nickelbrille und weißgrauen Haaren mittlerweile so aussieht, als mutiere er langsam vom Studienrat zum Weihnachtsmann, betrat am späten Montagabend in Cannes das Grand Théâtre Lumière zur Weltpremiere seines neuen Films. Und der Saal, der wirklich einschließlich des allerletzten Klappsitzes gefüllt war, tobte wie bei einem Rockkonzert. Sogar die emotional sonst eher konservativen Platzanweiserinnen klatschten begeistert mit. Hitler-Skandal, war da was?

Zur Erinnerung: Vor sieben Jahren hatte Trier, damals mit seinem Weltuntergangsdrama "Melancholia" in Cannes zu Gast, bei einer Pressekonferenz Sympathien für Hitler bekundet und sich dann immer weiter um Kopf und Kragen geredet - "Okay, ich bin ein Nazi!" - bis der Saal völlig baff war. Hinterher entschuldigte er sich, alles natürlich nicht ernst gemeint. Cannes aber erklärte ihn zur Persona non grata.

Hinter den Kulissen scheint es aber weitere Entschuldigungen und schließlich eine Aussöhnung gegeben zu haben, denn in diesem Jahr konnte Trier zurückkehren, um seinen Serienkillerfilm "The House That Jack Built" mit Matt Dillon und Bruno Ganz in den Hauptrollen zu zeigen. Allerdings konkurriert er damit nicht um die Goldene Palme, sondern läuft außer Konkurrenz, was man durchaus noch als kleine Strafaktion des Festivals lesen kann.

Triers Produzent sagte, er haue seit mehr als 25 Jahren allen seinen Mitarbeitern auf den Hintern

Sensationslüsterne Zyniker, die sich nach der Erfahrung vom letzten Mal fast mehr auf einen weiteren Pressekonferenz-GAU als auf den Film gefreut hatten, wurden enttäuscht: Es fand einfach keine statt.

Vielleicht auch, weil noch zu Beginn des Festivals Triers langjähriger Produzent Peter Aalbæk Jensen, der auch am neuen Film beteiligt ist, in die französisch-dänische Versöhnung hineingrätschte. Der 62- Jährige wird von ehemaligen Angestellten der sexuellen Belästigung und des Mobbings beschuldigt. Letzte Woche gab er der dänischen Zeitung Politiken ein Interview, in dem er erklärte, er haue seit über 25 Jahren allen seinen Mitarbeitern auf den Hintern, besonders den Praktikanten. Und er habe nicht die geringste Lust, nur wegen der "Me Too"-Debatte damit aufzuhören. Anti-Hinternklatsch-Propaganda halte er für "langweilig und ein bisschen bourgeois". Wohl auch als Konsequenz aus diesem Debattenbeitrag entschloss man sich in Cannes, dass es besser sein könnte, die Dänen hier in näherer Zukunft nicht öffentlich reden zu lassen.

Film Lars von Trier Cannes

Zweieinhalb Stunden in einem kranken Kopf: Matt Dillon spielt den Serienkiller in Lars von Triers „The House That Jack Built“, Riley Keough eines seiner Opfer.

(Foto: Festival Cannes)

Auch Trier ging nicht, wie sonst üblich, mit seinem Team auf die Premierenbühne, sondern blieb stumm im Auditorium stehen und nahm den Comeback-Applaus und das Geschrei eher verkrampft und schüchtern entgegen. Seine Hände, von denen die Finger der einen mit den Buchstaben F, U, C und K tätowiert sind, zitterten dabei heftig, er hielt sie extra für die Kameras hoch.

Und der Film? "The House That Jack Built" ist selbst für Trier-Verhältnisse ein saubrutales Stück Kino geworden. Es zeigt aber auch eindrücklich, warum Cannes-Chef Thierry Frémaux dem Regisseur, der hier unter anderem schon "Antichrist" und "Dogville" gezeigt und für "Dancer in the Dark" die Goldene Palme gewonnen hatte, unbedingt verzeihen wollte. Denn im Genre der unterhaltsamen bis schockierenden Totaldepression ist Trier immer noch der unerreichte Meister des europäischen Autorenfilms.

Kein herkömmlicher Serienkillerfilm

Der Thriller erzählt die Geschichte des fiktiven Serienmörders Jack (Matt Dillon). Sie spielt in den Siebzigerjahren im amerikanischen Hinterland, wo die verschneiten Straßen nachts schlecht ausgeleuchtet sind und die Besiedlung so dünn ist, dass die Gewaltorgien des Mörders zunächst niemandem auffallen.

Der Film ist in vier Kapitel aufgeteilt, in denen Jack einem alten Mann (Bruno Ganz) seine Taten schildert und schließlich von diesem, der eine Art Mephisto zu sein scheint, wortwörtlich ins Fegefeuer geführt wird. Opfer Nummer eins (Uma Thurman) ging leicht, erzählt Jack. Er schlug der Frau, die eine Reifenpanne hatte, mit einem Wagenheber - im Englischen "jack" - das Gesicht ein. Später wurden seine Taten ausgefeilter. Er zelebriert Folter und Hinrichtung, lernt das Würgen, schneidet einer Frau die Brüste ab, jagt eine Familie mit dem Gewehr vom Hochstand aus und bindet ein ganzes Männergrüppchen aneinander, um zu testen, ob er mit einer einzigen Kugel durch all ihre Köpfe kommt.

Und weil Trier natürlich keinen herkömmlichen Serienkillerfilm erzählt, unterbricht Jack seine Beichte auch für andere Ausführungen. Zum Beispiel über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Methoden der Süßweinproduktion. Oder die architektonischen Visionen des Nazi-Architekten Albert Speer. Jack sieht sich nicht als Mörder, sondern als Künstler, genauer gesagt als Architekt. Und in seinem Kühlhaus in einem abgelegenen Industriegebiet, wo sich die gefrorenen Leichen stapeln, plant er sein ultimatives Meisterwerk aus menschlichem Baumaterial.

Immer wenn man denkt, krasser geht's nicht mehr, setzt er noch eine Pointe drauf

Diese Story ist so pervers, dass man als Zuschauer ganz froh ist, nur für zweieinhalb Stunden und nicht dauerhaft in Lars von Triers Kopf zu stecken. An manchen Stellen ist "The House That Jack Built" aber auch sehr komisch, zum Beispiel, weil der Protagonist an einem manischen Putzzwang leidet und ständig zu seinen Tatorten zurückkehren muss, um noch einmal nachzuschrubben. So eine Achterbahnfahrt durch Obsessionen, Depressionen und Weltuntergangsvisionen ist natürlich nicht jedermanns Sache. Aber wie Trier sich hier wirklich allen dramaturgischen und ästhetischen Konventionen entzieht, hat man so radikal lange nicht mehr im Kino gesehen. Immer wenn man denkt, jetzt könne man voraussehen, was als Nächstes passiert, schlägt er einen neuen Haken, und immer wenn man denkt, krasser geht's nicht mehr, setzt er noch eine neue Pointe oben drauf.

Dagegen wirkt der neue Film von Spike Lee, einst einer der radikalsten Autorenfilmer der USA, fast brav. Dabei erzählt Lee in "Blackkklansman" (sic!), der am selben Abend Premiere feierte, eine ziemlich irre Geschichte nach einer wahren Begebenheit. Dem Polizisten Ron Stallworth gelang es in den Siebzigern in der US-Kleinstadt Colorado Springs, die örtliche Niederlassung des Ku-Klux-Klan zu unterwandern und bis in die höchste Führungsebene der Rassistenorganisation vorzudringen. Die nicht ganz unwichtige Hintergrundinformation: Ron Stallworth ist schwarz. Gespielt wird er von John David Washington, dem Sohn Denzel Washingtons, einer echten Entdeckung des Festivals.

Wie die Charade gelang, dass ausgerechnet ein Schwarzer mit einem Täuschungsmanöver die Schwarzenhasser infiltrierte, das ist natürlich der perfekte Stoff für den Black-Power-Regisseur Spike Lee. Vielleicht fast schon ein bisschen zu perfekt, weil er seiner Steilvorlage so sehr vertraut, dass er sie letztlich wenig radikal erzählt - eher nach den Regeln einer klassischen Verwechslungskomödie aus dem alten, weißen Hollywood. Dieses Genre beherrscht er aber erstaunlich gut, und so viel Szenenapplaus und Gelächter hatte bislang noch keiner der Filme, die um die Goldene Palme konkurrieren.

Im Gegensatz zu Lars von Trier entschied sich Spike Lee nach der Premiere dementsprechend auch für die große Show und führte zu lauter Hip-Hop-Musik mit seinen Darstellern eine kleine Tanzperformance auf dem roten Teppich auf.

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