62. Filmfestival Cannes:Das Böse an sich

Ganz Cannes fieberte dem neuen Werk von Quentin Tarantino entgegen - und sah fulminante "Inglourious Basterds". Dazu gab es Rätselspiele von Resnais und Haneke an der Croisette.

Tobias Kniebe

Die Arme gestikulieren, die Augen blitzen, der Mann ringt um Worte. Warum Cannes? Vor der Antwort auf diese Frage muss Quentin Tarantino kurz Luft holen - soviel Leidenschaft wallt in ihm auf. Dann Schnellfeuer, mit panzerbrechender Munition: "Weil die Filmfreaks der ganzen Welt hier versammelt sind! Weil die ganze Erwartung sich auf einen Moment, eine einzige irre Nacht konzentriert! Weil gebuht und gejubelt wird, und weil selbst in den Buhs mehr Leidenschaft für das Kino steckt, als anderswo überhaupt vorstellbar wäre... Weil Film hier, himmelnochmal, Bedeutung hat!! Und weil du die Katze mit Karacho aus dem Sack lassen kannst, für den ganzen verdammten Planeten Erde!"

62. Filmfestival Cannes: undefined
(Foto: Foto: AP)

Mit Karacho aus dem Sack kam Mittwochnacht "Inglorious Basterds", Quentin Tarantinos Version eines Kriegsfilms, eines Nazifilms, eines Historienfilms, eines - jawoll - Geschichtsmärchens. Es war einmal... im von Nazis besetzten Frankreich. Ein Bastard von einem Film! Er handelt von jüdisch-amerikanischen, teilweise sogar deutschstämmigen Undercover-Spezialkräften, geführt von Aldo dem Apachen alias Brad Pitt, die den Holocaust doch sehr persönlich nehmen; die deutsche Soldatenschädel durchlöchern, durchbohren, mit Baseballschlägern zertrümmern, skalpieren; und die ab und zu einen Zeugen, dem sie das Hakenkreuz auf die Stirn geschnitzt haben, davonkommen lassen - auf dass er die Kunde des Schreckens unter seinen Kameraden verbreite.

Wortgewaltiger Waltz

Ferner kommen vor: ein Kino in Paris, wo Filme der Nazis gezeigt und sogar geschätzt werden und das doch eine Widerstandszelle ist; geführt von einer jungen Jüdin mit falschen Papieren, die das Massaker ihrer Familie überlebt hat; ein absurd charmanter deutscher Kriegsheld; ein unvergesslich dämonischer österreichischer "Judenjäger"; ein Theaterhitler; ein Schmierengoebbels; ein Wampengoering. Am Ende sind sie alle bei einer Filmgala versammelt, mit einer Bombe unterm Hintern, die den Zweiten Weltkrieg um ein gutes Jahr verkürzen soll.

Man konnte, seit der Enthüllung des Projekts im letzten August, dem frenetischen Casting in Berlin, dem abgeschotteten Dreh in den Studios von Babelsberg, eine gewisse Sprengkraft in diesem Mix vermuten. Die Katze fauchte in ihrem Sack. Und jetzt? Grünes französisches Milchbauernland, ein schwarzer offener SS-Mercedes mit Motorradescorte auf der Landstraße, dann ein einsames Haus, Spaghettiwesternklänge aus der Ennio-Morricone-Bibliothek - und ein wundervoller Ausdruck von Verhängnis im Blick des bärtigen französischen Bauern, der da die Axt sinken lässt.

Dann steigt SS-Offizier Hans Landa aus. Das ist Christoph Waltz in seinem tollsten, wortgewaltigsten Wiener Verschlagenheitsmodus, er singt seine betörend gefährliche Sprachmelodien, sei es nun auf Französisch, Englisch, Österreichisch - oder bei Bedarf sogar auf Italienisch. Er sucht nach versteckten Juden. Vor allem aber nimmt er den Film in Besitz und gibt ihn nicht mehr her. Und plötzlich ist - Überraschung! - trotz der Nazis, trotz des Holocausts, trotz des Skalpiermesserblutes ganz klar: Dies ist einfach ein Tarantinofilm.

Entgegen anderslautender Gerüchte und vieler blutiger Sequenzen in seinem Werk ist dieser Tarantino, das bestätigt sich in den nächsten zweieinhalb Stunden auf geradezu frappante Weise, nämlich kein grausamer Filmemacher. Die Qual eines Verhörs auf die Spitze zu treiben, einen Suspense mit der Monstrosität des Holocaust aufzuladen und dann mitleidlos durchzuhalten - das alles ist weder sein Ziel noch sein Ding.

Er will nur grandiose Set-ups schaffen und dabei alle Zeit der Welt haben, und er will, mit der geballten Liebe des Cinemaniacs, grandiosen Schauspielern bei der Arbeit zuschauen. Was er dann auch macht. In "Inglorious Basterds" hat er, wie der freundlicher Applaus und das Ausbleiben jeder politischer Reaktion am Ende beglaubigen, einen Feelgood-Film gedreht. Geht das, selbst mit Nazis? Offensichtlich.

Da darf man, bevor es um die Einzelheiten dieser bizarren Erfahrung geht, durchaus für den Moment einmal ratlos sein. Denn Ratlosigkeit ist auch ein gutes Stichwort für einen Zwischenstopp bei zwei weiteren Filmemachern des Wettbewerbs: beim 86-jährigen Nouvelle-Vague-Heroen Alain Resnais, der es mit "Les Herbes Folles" noch einmal wissen wollte - und bei Michael Haneke, dem österreichischen Kinoweltbürger, der mit "Das weiße Band" ein deutsches Sozialpanorama von anno 1914 malt.

Das Böse an sich

Mehr als Tarantino

Resnais wollte wohl eine leichte und leicht bizarre Komödie um Liebeswirren im fortgeschrittenen Alter drehen, rund um seine immer noch bezaubernde Frau Sabine Azéma und ein paar Freunde, wie André Dussolier und Emanuelle Devos. Das funktioniert auch phasenweise wunderbar, etwa im Stil seiner früheren Erfolge wie "Smoking/Non Smoking". Nur diesmal reichen die Ambitionen weiter, müssen Stimmungen und Entwicklungen durch die Willkür des Regisseurs ins Unerklärliche verschoben werden - und so ist die ganze Übung leider schnell wieder vergessen.

Michael Haneke erklärt auch nicht gern, das kennt man schon, aber die bewussten Verrätselung im "Weißen Band" wirkt aufgesetzt. Der Film blickt mit dem doch sehr präzisen, beinah detektivischen Blick eines Dorflehrers auf Gutshof, protestantische Pfarrei, Arzthaushalt und Bauernschicksale im deutschen Norden, schwarzweiß gedreht, mit phantastischen, teilweise unbekannten Darstellern, teilweise äußerst dienstwilligen Stars wie Birgit Minichmayr in winzigen Rollen. Böse Unfälle in der Gemeinde häufen sich, jemand muss sie provoziert haben, Kinder werden misshandelt, der Täter bleibt unerkannt, eine Atmosphäre von Frömmelei, Verklemmung und Bedrohung drückt alles nieder.

Moralische Minenfelder

Man folgt dem gern und hofft die ganze Zeit, die vielen bösen Miniaturen mögen sich zu einem zwingenden Thema verdichten. Aber das passiert nie, und am Ende fallen die Einzelteile, die auch in der Tonalität wild zwischen Vorkriegspathos, Bierbichler-Grummelei und Rückfällen ins Psychodrama der Gegenwart schwanken, recht folgenlos auseinander.

Der Eindruck, der sich in Sachen Tarantino schließlich verfestigt, ist ein anderer: dass nämlich "Inglorious Basterds", der alle Erwartungen zunächst zu unterlaufen scheint und dabei die moralischen Minenfelder seines Stoffs mit farcehafter Leichtigkeit überspringt, in Wirklichkeit doch weit tiefere Themen enthält, als man zunächst wahrhaben will.

Da ist die Sprache als Waffe, zum Beispiel, die alle Sturmgewehre und Baseballschläger an Gefährlichkeit weit übertrifft. Die skalpschlitzenden "Basterds", trotz ihrer Dominanz im Titel, kommen da nicht so gut weg - teilweise verliert sie der Film fast aus den Augen. Und wenn er nicht gerade selbst eine tolle Rede schwingen darf, friert das aufgesetzte Hillbillie-Grinsen in Brad Pitts Gesicht etwas unglücklich fest.

Umso mehr rückt die Gewandtheit der anderen Darsteller, die fast alle mehrsprachig agieren, in den Vordergrund: Daniel Brühl, brillant als deutscher Scharfschütze, dringt mit seinem verführerisch leichten Französisch fast bis ins Herz der jüdischen Kinobesitzerin vor; Michael Fassbender, ein Shootingstar in England, aber in Deutschland geboren, wechselt als britischer Undercover-Agent die Sprachen so leicht wie die Uniformen; und im mindestens viersprachig perfekten "Judenjäger" Landa schließlich, einem "linguistischen Genie" (Tarantino), verdichtet sich diese Idee noch mehr. Er lullt seine Opfer mit einer Konversation ein, die fast wie eine Art Hypnose funktioniert. Was sie aber sehen, wenn sie diesem Mephisto schließlich direkt ins Schlangenauge blicken? Es könnte durchaus eine reine Idee sein - die Idee des Bösen an sich.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: