Filmfestival Cannes 2009:Verwirrt, hungrig, hoffnungslos

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Libidinöse Sprengkraft: Der zweite Tag in Cannes startet mit "Spring Fever" von Lou Ye und "Fish Tank" von Andrea Arnold, zwei Filmen über das wahre Leben.

Tobias Kniebe

Der Kritiker, das ist bei den großen Filmfestivals immer so, beginnt seine Arbeit mit einem grundsätzlichen Verdacht: Dass nämlich in der Auswahl, die er in Cannes oder Berlin oder Venedig vorgesetzt bekommt, die besten Filme des Augenblicks höchstwahrscheinlich fehlen. Von dieser Überzeugung lässt er sich durch nichts in der Welt abbringen: Stehen viele große Namen im Programm, die schon öfter dabei waren, klagt er über Kungelei, Abschottung und unfaire Vorteile für berühmte Filmemacher; gibt es nur wenige, vermutet er erst recht eine Krise - und Leerstellen im Programm, die mit minderwertigen Nobodys aufgefüllt werden mussten. Warum das so ist, wird am Ende des Textes klar sein. Heilbar ist dieses Misstrauen jedenfalls nicht.

Auf dem roten Teppich: Andrea Arnold (re.), Regisseurin von "Fish Tank". Mit dabei die Hauptdarsteller Kierston Wareing, Harry Treadaway und Michael Fassbender (von links). (Foto: Foto: getty)

Der aktuelle Cannes-Jahrgang fällt einmal mehr unter das Geschlossene-Gesellschaft-Verdikt. Von den zwanzig Filmemachern im Wettbewerb ist tatsächlich nur die Spanierin Isabel Coixet zum ersten Mal dabei, mit "Map of the Sounds of Tokyo". Vier Regisseure - Quentin Tarantino, Lars von Trier, Jane Campion und Ken Loach - hoffen auf ihre zweite Goldene Palme, und drei Daueranwärter - Pedro Almodóvar, Marco Bellocchio und Michael Haneke - kämpfen um ihren ersten Hauptgewinn.

"Große Autorenfilmer machen eben große Filme", sagt der Festivalchef Thierry Frémaux dazu, was man getrost auch mit "Haltet den Mund und setzt euch ins Kino" übersetzen könnte. Ob er recht hat, wird sich zeigen - jetzt sind erst einmal die schon bekannten, aber noch nicht ganz so großen Namen dran, die für jugendlichen Elan, Rebellion und ein Quantum ungebremste Energie stehen sollen.

Der chinesische Regisseur Lou Ye erfüllt diese Voraussetzungen ziemlich perfekt. Der erste Film zensiert, der zweite, "Suzhou River", heimlich in den Straßen von Shanghai gedreht, der dritte, "Summer Palace", der eher beiläufig auch von den Studentenprotesten des Jahres 1989 erzählt, im Jahr 2006 ohne Erlaubnis in Cannes aufgeführt - was dann in China ein fünfjähriges Berufsverbot für den Regisseur zur Folge hatte. Jetzt, erklärt Lou Ye, habe er jeden Kontakt zum staatlichen Filmbüro in seiner Heimat abgebrochen - und einfach weitergemacht. Das Geld für sein neues Werk "Spring Fever" stammt aus Frankreich und Hongkong, gedreht hat er praktisch mit versteckter Kamera in Nanking. In China, davon kann man ausgehen, wird der Film also nie offiziell zu sehen sein. Seine Bedrohlichkeit für die kollektive Moral der Chinesen erschließt sich auch recht schnell.

Dabei geht es weniger um die doch recht freizügigen schwulen Liebesszenen, die man zu sehen bekommt, oder um die geheime Welt der Transvestiten-Karaoke-Bars, in die der Film gelegentlich eintaucht. Das sind sicherlich Tabubereiche in China, aber die eigentliche Provokation liegt anderswo. Ein verheirateter junger Mann, dessen schwule Affäre von seiner Frau entdeckt und von ihr an den Pranger gestellt wird, bringt sich um; ein junger Detektiv, der den Lover beschatten soll, verliebt sich stattdessen in ihn; er will dennoch nicht von seiner Freundin lassen, eine Ménage à trois bahnt sich an; dann driftet alles wieder auseinander.

Das Besondere dabei ist, dass all diese Figuren auf eine Weise "Ich" sagen, die für China radikal ist, dass sie ihre Individualität, so verwirrt und hungrig und hoffnungslos sie sein mag, vollständig in den Mittelpunkt ihrer Existenz stellen. Für westliche Augen mag das verwirrend aussehen - jeder mit jedem in spärlich ausgeleuchteten Räumen, das schafft ein echtes Problem beim Auseinanderhalten der Gesichter -, aber man kann sich doch gut vorstellen, welch libidinöse Sprengkraft darin liegt, sollten Lous 1,3 Milliarden Landsleute anfangen, solcherart nach Selbstverwirklichung zu suchen.

Echt bis auf den letzten Pickel

Wie man ein Thema, das längst abgehandelt erscheint, noch einmal neu und aufregend angreift, zeigt auch Andrea Arnold mit "Fish Tank". Schon in ihrem Debüt "Red Road", in Cannes vor drei Jahren mit dem Jurypreis ausgezeichnet, zeigte die englische Regisseurin eine große Vertrautheit mit dem Leben im Sozialwohnungsgürtel Londons. Auch hier feuert sie erst einmal eine volle Breitseite britischen Proletarierelends ab - rauchende und dauerfernsehende Kinder, fluchende und prügelnde Teenager, alleinstehende, verwahrloste, dafür umso wilder kopulierende Mütter. Aber durch all diese Klischees, die möglicherweise ja wahr sind, marschiert wunderbar roh und unwehleidig die 15-jährige Mia, gespielt oder vielmehr mit Haut und Haaren verkörpert von der Vorstadtbewohnerin Katie Jarvis, die an der Bahnstation des Drehorts Tilbury entdeckt wurde.

Dieses Mädchen ist echt bis auf den letzten Pickel - und gerade deshalb ist es so faszinierend zu sehen, welch elektrische Spannung entsteht, als sie sich zum ersten Mal verliebt. Es ist ausgerechnet der doch recht heiße neue Freund ihrer Mutter, der zudem noch wirkliches Verständnis für sie zeigt - sodass man eine Weile hofft, hier könnte eine Vaterfigur gefunden sein, die alles irgendwie richtet. Aber ach, die Verwirrung der Gefühle und Begierden, sie ist nicht nur ein aktuelles Problem der Chinesen, sondern ein altes Problem der ganzen Welt - und selbst wenn der Westen in seinen Experimenten damit ein paar Jahrzehnte Vorsprung hat, ist er einer Lösung doch keinen Millimeter näher.

Was nun das Misstrauen des Kritikers gegenüber dem Festival betrifft - es lässt sich auch durch die ersten gelungenen Filme natürlich nicht entkräften. Im Grunde kann jetzt sogar laufen, was will - am Ende wird doch das Gefühl bleiben, dass der eine, entscheidende Film auch diesmal wieder nicht dabei war. Das muss sogar so sein. Hinter diesem Aberglauben steckt nämlich eine Art eschatologische Hoffnung, die jeder Kritikerexistenz erst Sinn verleiht: Dass es tatsächlich dort draußen ein Jahrhunderttalent geben könnte, das völlig aus dem Nichts kommt, für das alle Festivaldirektoren zu blind waren. Die Aufgabe, ihm den Zugang zum Olymp zu erkämpfen, obliegt dann selbstverständlich allein dem Kritiker - Träumen wird ja wohl noch erlaubt sein.

© SZ vom 15.5.2009/bey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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