Filmfest Venedig 2012:Reif für die Sühne

Venedig zeichnete in diesem Jahr Werke aus, die sich mit Fragen der Religion abquälen. Der Wettbewerb hat Buh-Rufe für einen angeblich reaktionären Film und eine Blasphemie-Anzeige provoziert - gegen einen Film, in dem eine Nonne mit einem Kruzifix ins Bett geht.

Tobias Kniebe und Susan Vahabzadeh, Venedig

Als der letzte Preis vergeben war, und der Regisseur Kim Ki Duk auf der Bühne des Festivalpalastes das koreanische Volkslied "Arirang" anstimmte, um seinen Goldenen Löwen zu feiern, ließ sich eine Erkenntnis nicht länger von der Hand weisen: Die religiösen Themen und Motive, sie haben im Kino immer noch eine gewaltige Kraft.

Venedig: Goldener Löwe für südkoreanischen Film ´Pieta"

Von der Liebe eines bösen Mannes handelt der Siegerfilm von Venedig, "Pieta" von Kim Ki Duk.

(Foto: dpa)

Der Wettbewerb in Venedig war voll davon in diesem Jahr, und die Reaktionen waren heftig: Mal wurden Blasphemievorwürfe erhoben und zur Anzeige gebracht, auf der anderen Seite gab es heftige Buh-Rufe für einen angeblich reaktionären Blick auf jüdisch-orthodoxe Frömmigkeit. Und selbst beim Goldgewinner Kim Ki Duk, wo Gott dann doch sehr fern war, zeigte sich noch die Macht der religiösen Ikonografie, die schon in seinem Titel "Pieta" anklingt. Die Jury um den Regisseur Michael Mann jedenfalls hat das religiöse Leitmotiv in ihrer Auswahl voll bestätigt.

Ein sehr hoher Anteil der koreanischen Filme, die auf Festivals gezeigt werden, sind christlicher Prägung, in der Bevölkerung liegt der Christen-Anteil bei unter einem Drittel; Kim Ki Duk gehört tatsächlich dazu. In Cannes hatte er voriges Jahr noch eine Art konfessionellen Film gezeigt, das Dokument einer erschütternden Schaffenskrise - jetzt aber war der 51-Jährige wieder obenauf und zog die Zuschauer hinein in eine seiner Exerzitien im Extrembereich menschlicher Gefühle, voller Gewalt und Blut. Bei seinem Film "The Isle", im Jahr 2000 in Venedig aufgeführt, kam es schon reihenweise zu Ohnmachtsanfällen.

Seine religiösen Motive schüttelt "Pieta" ordentlich durch, im Grunde ist es die düstere Vision eines Mannes, der mit allen christlichen Grundsätzen ringt, die er in der Welt nicht mehr gespiegelt findet. Liebe, Glaube, Hoffnung, das ist hier alles nichts: Es geht um einen brutalen Schuldeneintreiber, vor dessen Tür plötzlich eine Frau auftaucht, die vorgibt, jene Mutter zu sein, ohne die er aufwachsen musste. Eine Geschichte voller Rachsucht und Gewalt, mit einer heimtückischen Madonna, einem Anti-Erlöser, die sich bewegen in einer Welt voll bitterer Armut, in den Ruinen der Zivilisation - und die Liebe ist Mittel zum Zweck, sie wird vorgespiegelt und benutzt, um einen eisigen Leidensbringer verletzlich zu machen und reif für die Sühne.

Das gipfelt dann im Bild des Sohnes, der sich - genau andersherum also als in der eigentlichen Pietà - an die tote Mutter kuschelt. Wäre das Böse womöglich gar nicht in die Welt gekommen, hätte jemand diesen Mann beizeiten geliebt?

Was es heißt, Jünger zu sein

Der zweite große Gewinner dieses Jahr ist "The Master": Der Preis für die beste Regie ging an Paul Thomas Anderson, die Coppa Volpi für den besten männlichen Schauspieler teilten sich seine Hauptdarsteller Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix, wobei letzterer seinem erratischen Ruf schon wieder alle Ehre machte und bei der Verleihung nicht erschien. Bei diesem Film geht es um die Sturm- und Drangjahre einer amerikanischen Glaubensgemeinschaft, die eindeutig nach dem Vorbild der Scientologen entworfen ist - da postulieren ja vor allem die Gegner, dass diese sich nur in betrügerischer Absicht als Religion bezeichnen.

Paul Thomas Anderson kommt dem insofern entgegen, als er den Sektenführer Lancaster Dodd (Hofmann) als äußerst weltlichen Lebemann zeichnet, Drogen und anderen Sinneserfahrungen freudig zugeneigt. Nur möchte er, dass man den Mann mit all seinen Fehlern und seinem Größenwahn auch lieben muss, und erstaunlicherweise gelingt ihm das. Auf jeden Fall religiös angehaucht ist die Joaquin-Phoenix-Figur: In ihrer verzweifelten Suche, ihrer Haltlosigkeit und Getriebenheit verkörpert sie das verlorene Schäflein, das sich in einen Jünger verwandelt. Und selten hat das Kino so genau studiert, was es heißt, Jünger zu sein - für einen Meister einerseits durchs Feuer zu gehen, zugleich aber auch permanent mit dessen Autorität zu ringen.

In einem weiteren Sinn passt dazu auch "Après Mai", für den Olivier Assayas den Preis fürs beste Drehbuch erhielt. Es geht um eine Gruppe linker französischer Teenager in den Siebzigern, und der Prozess ihrer politischen Radikalisierung führt sie automatisch aus dem sicheren Gebiet der Rationalität heraus und dorthin, wo die Gesetze der Logik nicht mehr gelten, wo Glaube und Ideologie sich treffen.

"Ich bin kein Gotteslästerer"

Der Preis für die beste Darstellerin ging an Hadas Yaron aus Israel, in Rama Burshteins "Fill the Void", der unter streng orthodoxen Juden in Tel Aviv spielt und auch von einer orthodoxen Jüdin inszeniert wurde, verkörpert sie eine Achtzehnjährige in den Wirren des jüdischen "Matchmaking", der von Eltern und Rabbi gesteuerten Verheiratungspolitik. Yaron spielt das sehr natürlich und überzeugend, aber die 22-Jährige ist kaum älter als ihre Figur, dies ist ihre erste größere Rolle. Weil dieses Mädchen nicht gegen ihr fremdgesteuertes Schicksal rebelliert ,und der Film die enge und beklemmend archaische Welt nicht kritisiert, die er zeigt, sondern gelegentlich sogar Schönheit darin sieht, wurde ihm von der Kritik gleich mal das Etikett "reaktionär" angeheftet. Immerhin, kein männlicher Orthodoxer wird diese Leistung jemals sehen - diese dürfen keine Frauen auf der Leinwand betrachten.

Als heimlicher Sympathisant bezeichnet zu werden, das wiederum könnte dem Österreicher Ulrich Seidl (Spezialpreis der Jury) nicht passieren - auch wenn er in "Paradies: Glaube" tief in die Welt der katholischen Kampfchristen eintaucht, und durchaus fasziniert davon ist. Seine Hauptfigur, eine Wiener Krankenschwester jenseits der fünfzig, war nicht immer so radikal, sie hat sogar mal einen Muslim geheiratet. Jetzt aber liebt sie nur noch Jesus, mit geradezu masochistischer Hingabe - und weil sie im Zustand der Erregung auch mal ein Kruzifix mit unter die Bettdecke nimmt, bekam Seidl gleich mal eine Blasphemie-Anzeige italienischer Katholiken. "Ich bin keineswegs ein Gotteslästerer", sagte er, als er den Preis entgegennahm.

Gerade diese Szene aber zeigt sehr gut, wie spannend die Frage noch immer ist, ob die Kunst so etwas darf, und ob das Kino solche Szenen nicht freiwillig besser bleiben lassen sollte. Ist der Gegenwert solcher Provokation - so die Mosebach-Frage - heute nicht viel zu billig, wenn nicht wie früher noch wirkliche Bestrafung dafür zu erwarten ist, wenn sich die Religion nicht mehr von ihrer rachsüchtigen Seite zeigt? Andererseits ist Masturbation mit einem Kruzifix im Kino für immer mit Friedkins "Exorzisten" verbunden - wer das noch mal macht, fängt sich eine Art post-ironischen Tripper ein. Sagen wir es so: "Paradies: Glaube" wäre ohne diese Szene keinen Deut schwächer.

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