Filmfest Venedig 2012:Glauben oder draußen bleiben

Religion und Rebellion sind in Venedig untrennbar. Olivier Assayas widmet sich der militanten Politisierung der Jugendlichen in den Siebzigern und Susanne Biers romantische Komödie verzichtet auf Mainstream-Schnörkel. Ein Genuss für den Kino-Gott.

Susan Vahabzadeh, Venedig

Ob Gott wohl einverstanden ist mit allem, was er im Kino so zu sehen kriegt? Das ist schwer zu sagen, aber wenn an dem altgriechischen Gerücht etwas dran ist, dass er seine Unzufriedenheit äußert, indem er Regenstürme, Donnergrollen und graue Wolken losschickt, hat der tiefreligiöse Wettbewerb der 69. Mostra angefangen, ihm auf die Nerven zu gehen.

Filmfest Venedig 2012: Eine historische Impression, mehr Idylle als Ideologie, zu den Ereignissen des Mai '68: Szene aus "Après Mai", dem neuen Film von Olivier Assayas.

Eine historische Impression, mehr Idylle als Ideologie, zu den Ereignissen des Mai '68: Szene aus "Après Mai", dem neuen Film von Olivier Assayas.

(Foto: Festival)

Der gibt sich als Gemischtwarenladen für diverse Glaubensrichtungen: Mira Nair befasste sich zur Eröffnung mit den Muslimen, in "The Master" von Paul Thomas Anderson war's Scientology, Terrence Malick erforschte die eigene Biografie unter besonderer Berücksichtigung christlicher Werte, und jetzt sind die orthodoxen Juden dran.

In Rama Burshteins "Fill the Void" geht es um Shira, jüngste Tochter einer orthodoxen Familie in Tel Aviv. Sie ist achtzehn und guckt sich im Supermarkt aus sicherer Entfernung den für sie in Frage kommenden Heiratskandidaten an. Voller Vorfreude. Weil dann aber ihre Schwester stirbt und die Familie des erhofften Bräutigams ihr die rote Karte zeigt, geht es für den Rest des Films darum, ob sie nicht doch besser den Witwer der Schwester heiratet und sich um deren Kind kümmert. "Fill the Void" erzählt von Religion nun wirklich auf eine Art, die keine Leere füllt, immer schön im Plauderton.

Heile Welt voller Kopftücher

Alles was am orthodoxen Judentum unangenehm sein könnte, wird fröhlich niedergebügelt - selbst die olle Cousine Frida, die man eigentlich schon für einen Ladenhüter hielt, findet dann doch noch einen älteren Herrn, der sie ehelicht; und in Tel Aviv wird es ja zwar doch gelegentlich recht heiß, aber für die Frauen in Shiras Familie, in ihren voluminösen Wolljacken und Pullovern bis zum Hals, scheint Schwitzen ein Fremdwort zu sein. Eine heile Welt voller Kopftücher und Heiratsvermittler.

Nun ist es ja schön und gut, wenn sich Rama Burshtein so unheimlich wohl fühlt in einer Gemeinschaft, in der das einzige Ziel für eine Frau ist, einen Mann zu heiraten, den sie eigentlich kaum kennt - aber man fragt sich, warum sie dann Filme macht, statt sich ordentlichen häuslichen Tätigkeiten zu widmen. Alberto Barbera, der neue Leiter der Filmfestspiele in Venedig, ist vorab sehr gelobt worden dafür, dass er so viele Regisseurinnen eingeladen hat - man sollte vielleicht doch keine Vorschusslorbeeren verteilen, auch Regisseurinnen können altbackene, frauenfeindliche Filme machen. So wenigstens hat "Fill the Void" also zur Erweiterung des Horizonts beigetragen.

Spannender ist es dann schon, wenn die Filme zwar miteinander zu tun haben, aber die Verbindung sich erst auf den zweiten Blick herstellt. Olivier Assayas, der vor zwei Jahren mit seinem Terroristenepos "Carlos" in Cannes Furore machte, wendet sich in "Après Mai" dem Ursprung seines Interesses an der militanten Politisierung der Jugendlichen in den Siebzigern zu - und er hat, wie Terrence Malick, autobiografische Momente dafür verwendet, aber mit viel mehr Distanz.

Erholungstrip im Zitronenhain

Es geht um einen Trupp von Gymnasiasten in der Pariser Vorstadt zu Beginn der siebziger Jahre, kleine Brandstifter, die unbedingt die Welt verändern wollen und dabei die Grenze austesten zwischen legalem Protest und brutaler Rechthaberei. Spätestens als sie die Baracke von Wachleuten anzünden, die sie bei einer Spray-Aktion erwischt haben, ist diese Grenze überschritten. Gilles ist in der Gruppe derjenige, der zu viele Fragen stellt, und manchmal wird eben völlig klar, dass Ideologien auch bloß Religionen sind, und wer nicht glauben will, muss draußen bleiben.

Ein alter Linker, der die Gruppe betreut, weist Gilles zurecht, weil er ein Buch liest über die Massaker während der Kulturrevolution in China - und da Gilles sehr genau weiß, wer der Mann ist, der dieses Buch geschrieben hat, will der Alte ihm unbedingt einreden, es handele sich bloß um imperialistische amerikanische Hetzpropaganda.

Letztlich ist "Après Mai" keine große Abrechnung mit '68, und auch kein großes historisches Tableau wie "Carlos" - eher ein kleines Hintergrund-Stück, in dem es darum geht, warum Assayas nie auf religiöse Art politisch sein wollte. Am Ende sehen wir Gilles bei seinem ersten Job, der ihn näher bringt an seinen Traum, Filmemacher zu werden: Er ist Assistent an einem Set zu einem Film mit Nazis, leicht bekleideten Mädchen und einer Pappmaché-Echse. Und er lächelt - ein bitteres Schlussbild.

Auch ein Film, der wenig taugt, taugt immer noch mehr als eine politische Aktion, die mehr Schaden anrichtet als sie nützt. Er hat keine Antwort auf die Frage, wie man es besser machen kann - aber es ist ja schon mal gut, wenn einer ganz genau weiß, was er nicht will. Einmal, kurz nachdem ihn ein Freund nach dem Wachmann gefragt hat, der in der brennenden Baracke verletzt wurde, setzt Gilles sich in Pompeji vor eine versteinerte Leiche und beginnt sie zu zeichnen, ganz ernst.

"Du kannst es ja nochmal versuchen"

Da ist Susanne Biers "Love Is All You Need", außer Konkurrenz, eher zur Erbauung im Programm, als kleiner Erholungstrip in einen Zitronenhain. Die Dänin, die in diesem Jahr den Oscar gewonnen hat für den besten fremdsprachigen Film mit "In a Better World", hat eigentliche eine klassische hollywoodianisch-romantische Komödie gemacht - mit all dem Spaß, der dazugehört, aber sie hat die Konzessionen an einen vermeintlichen Mainstream weggelassen, die meist ohnehin stören: das Zuviel an rosarotem Glück, und all die unglaubwürdigen Wendungen, wenn wieder zusammenwachsen muss, was nicht zusammengehört, bloß weil es sich so gehört.

Im Zentrum steht Ida (Trine Dyrholm), ein niedlicher Unglücksrabe mit einer unfassbaren Begabung zum positiven Denken. Sie hat Brustkrebs und ist nach einer Operation gerade auf dem Weg der Besserung, die Rekonstruktion lehnt sie ab, weil ihr Mann Leif "sowieso noch nicht gemerkt hat, dass da eine fehlt". Hat er aber doch, weswegen sie ihn kurz darauf mit seiner zwanzigjährigen Geliebten auf dem heimischen Sofa überrascht. Getrennt machen sich die beiden dann auf zur Hochzeit ihrer Tochter in Italien - unterwegs ramponiert Ida noch das Auto von Phillip (Pierce Brosnan), dem Vater des Bräutigams, und dann darf Idas Familie vor der idyllischen Kulisse einer Villa an der Amalfiküste zeigen, was sie alles an Peinlichkeiten zu bieten hat - die dann aber mühelos von Philips Schwägerin (Paprika Steen) überboten werden.

Phillip ist ein ziemlicher Griesgram seit dem Tod seiner Frau - für jemanden wie Ida, die an einem Neandertaler wie Leif sogar noch positive Seiten entdecken konnte, also ein geeignetes Projekt. "Love Is All You Need" ist ein zauberhafter Film, ein Leichtgewicht zwar, aber er hält die Balance zwischen Komik und Sentimentalitäten - das ist unterhaltsam. Und er hat nicht die geringste religiöse Anwandlung. Idas Tochter kriegt kalte Füße und fragt ihre Mutter zwei Tage vor der Hochzeit, was sie tun soll. Eine richtig gute Antwort hat Ida nicht parat, nur ein Achselzucken: "Du bist ja nicht katholisch, Du kannst es ja nochmal versuchen." Und ob man's glaubt oder nicht: Nach dieser Vorführung war der Himmel wieder blau.

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